G8 2005 - Jason Kirkpatrick

Nach den Unruhen von 2011 – Die Veränderung der britischen Polizeilandschaft

von Val Swain

Die Auswirkungen der Austeritätspolitik sind im Vereinigten Königreich seit Jahren zu spüren. Nach den großen Demons­trationen von 2010 und den Unruhen im August 2011 betreiben die Regierung und die 43 regionalen Polizeien eine Aufrüstung sowohl des Gewalt- als auch des Überwachungsarsenals.

Das Vereinigte Königreich verfügt bereits seit Langem sowohl über ein umfassendes gesetzliches Instrumentarium zum Umgang mit „unfriedlichen Zusammenrottungen“ als auch über ausgedehnte Videoüberwachungsnetze, die zum Teil direkt von der Polizei kontrolliert werden. Automatische Lesegeräte erfassen die Bewegungen von Autos in großen Teilen des Landes. Jedes Fahrzeug, das in die Londoner Innenstadt fährt, wird von den für die Erhebung der City-Maut installierten Kameras registriert.

Dennoch war die Polizei vom Ausmaß der Proteste und Unruhen zu Beginn des Jahrzehnts überrascht. 2010 kam es zu heftigen Protesten gegen die Kürzungen im öffentlichen Sektor. Insbesondere StudentInnen wehrten sich gegen die Angriffe der Regierung auf den Bildungssektor mit Besetzungen und Demonstrationen, die angesichts ihrer Größe und Militanz eine Herausforderung für die übliche polizeiliche Taktik der Eindämmung darstellten. Im Dezember 2010 stand eine studentische Demo in Westminster kurz davor, den Sicherheitsring um das Parlament zu durchbrechen. Die Polizei preschte schließlich mit Pferden in die Menschenmenge. Alfie Meadows, einer der protestierenden StudentInnen, erlitt lebensgefährliche Verletzungen, und es grenzt an ein Wunder, dass es nicht weitere Opfer gab. Zur gleichen Zeit kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall, als der Wagen mit Prinz Charles und seiner Frau plötzlich mitten in einem unkontrollierten schwarzen Block stand und angegriffen wurde.

Im August 2011 waren die tödlichen Schüsse der Polizei auf Mark Duggan der Auslöser für tagelange Unruhen in mehreren Bezirken Londons und in weiteren britischen Städten. Häuser brannten ab, ganze Einkaufszentren wurden geplündert. Die Polizei verlor die Kontrolle und hatte Mühe, ihre Wachen vor den Mengen aufgebrachter Jugendlicher zu schützen, die zur Rache entschlossen schienen.

Nach den Unruhen stand die Polizei auch im Parlament unter massivem Druck, ihr Versagen zu rechtfertigen und sicherzustellen, dass derartige Ereignisse sich nicht wiederholten. Im Herbst 2011 untersuchte das Polizeiinspektorat (HMIC) das polizeiliche Vorgehen im August. Das Ergebnis war ein Bericht, der sich unter dem reichlich militaristischen Titel „Rules of Engagement“[1] schwerpunktmäßig mit zwei Fragen beschäftigte: mit den Mängeln bei der Sammlung und Analyse von Intelligence und mit dem polizeilichen Einsatz von Gewalt.

Militarisierung

Der Prozess der Militarisierung begann in der britischen Polizei bereits in den 80er Jahren. Im Gefolge des Bergarbeiterstreiks legte sich die Polizei paramilitärische Uniformen und Ausrüstungen zu. Nach den Unruhen in Handsworth, Brixton und Broadwater Farm 1985 importierte man paramilitärische Techniken aus Nordirland.[2] Die Zahl der BeamtInnen der Metropolitan Police of London, die im Gebrauch von Plastikgeschossen ausgebildet waren, stieg.

Ein ähnlicher Prozess spielte sich nach den August-Unruhen 2011 ab. Die Londoner Polizei bemühte sich nicht nur, ihre Organisation und Ausbildung zu verbessern, sie hat auch ihre Bestände von Plastikgeschossen aufgestockt und will nun Wasserwerfer anschaffen, was – sieht man von Nordirland ab – eine Premiere für die britische Polizei darstellt.

Plastikgeschosse

Die derzeit von der britischen Polizei eingesetzten Plastikgeschosse bestehen aus massivem Polyurethan, sind zehn Zentimeter lang, 3,7 cm dick und wiegen 98 Gramm. Sie sind also vergleichsweise groß und schwer. Die sogenannten „Projektile mit abgeschwächter Energie“ (Attenuated Energy Projectiles, AEPs) sind dafür vorgesehen, unmittelbar auf Personen abgefeuert zu werden und können schwere Verletzungen verursachen. In fünf Jahrzehnten des Einsatzes in Nordirland wurden 17 Menschen, darunter acht Kinder, von solchen Geschossen getötet. PolizistInnen werden zwar darauf trainiert, Schüsse auf die Kopfpartie zu vermeiden, weil hier tödliche Verletzungen wahrscheinlicher sind. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Eine Untersuchung über Verletzungen bei drei Ausschreitungen in Nordirland 2005[3] zeigte, dass sechs von 14 Personen, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen mussten, Verletzungen am Kopf oder im Nackenbereich aufwiesen. Bei sieben der 14 Personen waren die Verletzungen so schwer, dass sie im Krankenhaus bleiben mussten. Eine Person landete auf der Intensivstation.

Während der August-Unruhen setzte die Polizei keine Plastikgeschosse ein, obwohl sie theoretisch vorhanden waren. Die Polizei meinte, man habe in London nur eine begrenzte Anzahl dafür ausgebildeter BeamtInnen und sei auch nicht in der Lage, sie zur rechten Zeit zum rechten Ort zu bringen.[4] Tatsächlich zeichneten sich diese Unruhen durch eine große Beweglichkeit der TeilnehmerInnen aus. Sobald die Polizei mit einem größeren Aufgebot aufkreuzte, ging man auseinander und kam an anderer Stelle wieder zusammen. Die schwerfälligen Polizeieinheiten konnten nicht mithalten.

Um die Agilität des Einsatzes von Plastikgeschossen zu verbessern, hat die Polizei nun nicht nur ihre Bestände von 6.000 auf 10.000 aufgestockt, sondern auch die Zahl der ausgebildeten BeamtInnen erhöht.[5] Der „Rules of Engagement”-Bericht hielt fest, dass der Einsatz von Plastikgeschossen in vielen Situationen möglich und auch rechtlich erlaubt sei – unter anderem dort, wo Barrikaden errichtet und Steine geworfen werden. Geradezu verstören muss jedoch, dass der Bericht in bestimmten Situationen während der Unruhen auch den Einsatz von Schusswaffen mit scharfer Munition für „legal und verhältnismäßig“ erachtete.

Anders als in Nordirland[6] ist der Einsatz von Plastikgeschossen in England und Wales bisher beschränkt. Gegen Proteste oder Ausschreitungen wurden sie hier noch nie genutzt – wohl auch weil ihnen die Polizei eine eskalierende Wirkung zuschrieb. Im Gefolge der August-Unruhen wurde jedoch bekannt, dass die Londoner Polizei bereits anlässlich der studentischen Demonstrationen 2010 grünes Licht für den Einsatz gegeben hatte. 2010 und 2011 gab es insgesamt 22 derartige Vorabbewilligungen, was die Befürchtung aufkommen lässt, dass solche Waffen nicht erst bei Unruhen wie denen vom August 2011, sondern bereits bei erheblich geringfügigeren Ordnungsstörungen benutzt werden könnten.[7]

Wasserwerfer

Die Metropolitan Police führt derzeit eine gezielte Kampagne für die Anschaffung von drei Wasserwerfern in der Hauptstadt. Demnach sollen sie die „Lücke“ im „Kontinuum der polizeilichen Zwangsmittel“ füllen; sie seien weniger gefährlich als Plastikgeschosse oder der Einsatz berittener Polizei. In der Diskussion ist u.a. der Kauf gebrauchter Wasserwerfer aus Deutschland.

Bernard Hogan Howe, Commissioner der Met, rechtfertigt die Pläne mit den August-Unruhen. Allerdings ist selbst polizeilichen KommentatorInnen klar, dass der Einsatz von Wasserwerfern bei diesen Unruhen nichts gebracht hätte. Sie wären schlicht und einfach zu langsam für die hoch mobilen TeilnehmerInnen der Riots gewesen.[8] Das eigentliche Ziel besteht darin, diese Waffen gegen politischen Protest einsetzen zu können. Hogan Howe beteuert zwar, die Wasserwerfer würden nicht gegen friedliche Demonstrationen genutzt. Sie sollen aber für den Fall bereit stehen, dass es zu Ausschreitungen kommt.

Gepanzerte Fahrzeuge

Die taktische Nutzung von Fahrzeugen gehört seit einigen Jahren zum „Crowd Control“-Repertoire der britischen Polizei. Mannschaftswagen werden unter anderem dazu genutzt, um Protestierende in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Sie können etwa auf beiden Seiten einer Straße geparkt werden, um eine Menschenmenge zu zwingen, durch kleine Zwischenräume zu gehen.

Die Metropolitan Police besitzt eine Reihe von gepanzerten Fahrzeugen der Firma Jankel, die als Mannschaftswagen für die Bereitschaftspolizei oder für Plastikgeschoss- oder Schusswaffenteams benutzt werden.[9] Diese Fahrzeuge wurden auch bei Protesten (etwa gegen das G20-Treffen 2009) eingesetzt. Während der Unruhen von 2011 wurden sie genutzt, um Ansammlungen auseinander zu treiben. Die Polizei fuhr dabei mit großer Geschwindigkeit direkt auf die Menge zu.[10] Sie erkannte zwar später die damit verbundenen Unfallrisiken an, dennoch bewertete auch das Polizeiinspektorat dieses Vorgehen als „verhältnismäßig und zu diesem Zeitpunkt notwendig“.[11]

Auflagen

Die britische Polizei ist zwar vorbereitet für den Einsatz von Gewalt, zieht es aber vor, mögliche Ausschreitungen zu be- oder verhindern oder TeilnehmerInnen abzuschrecken. Gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Bewegungsfreiheit unterstützen sie bei dieser Strategie. Sie kann Kundgebungen auf bestimmte Gebiete begrenzen, Zeitpunkt, Beginn und Ende von Protesten festsetzen, die Routen von Demonstrationen und selbst die Höchstzahl der zugelassenen TeilnehmerInnen diktieren.

Um Demonstrationen auf der festgelegten Route oder auf dem vorgesehenen Kundgebungsplatz zu halten, bedient sich die Polizei sogar etwa drei Meter hoher Metallbarrieren, die eigentlich zur Abriegelung von Gebieten bei chemischen, biologischen oder radioaktiven Unfällen gedacht sind. Zuwiderhandlungen gegen eine der genannten Auflagen können in Festnahmen enden.

Massenfestnahmen

Dabei hat die Polizei klar gemacht, dass sie darauf vorbereitet ist, wenn nötig Hunderte von Personen festzunehmen. So wurden im Jahr 2013 286 antifaschistische DemonstrantInnen für mehrere Stunden eingekesselt und anschließend mit der Begründung festgenommen, die Beschränkung von Antifa-Demonstrationen in diesem Gebiet verletzt zu haben. Von „Transport for London“ wurden mehrere Busse angefordert, um die Festgenommenen auf diverse Polizeistationen zu verteilen.

Vorbeugende Festnahmen sind zwar nicht neu, stellen aber eine Methode dar, auf die die Polizei nun mit großem Enthusiasmus insbesondere dann zurückgreift, wenn hochkarätige Anlässe bedroht scheinen. Am Tag vor der Hochzeit von Prinz William im April 2011 wurden drei besetzte Häuser in London unter verschiedenen Vorwänden durchsucht. Die Polizei gab später zu, dass der Termin zur Durchsuchung bewusst gewählt wurde, um anti-monarchistische DemonstrantInnen abzuschrecken. Am Tag der Hochzeit selbst nahm sie in der City mehrere Gruppen sowie eine einzelne Person fest und hielt sie bis zum Ende der Hochzeit gefangen, obwohl es keine Anzeichen dafür gab, dass sie etwas anderes als friedlichen Protest im Sinn hatten. Klagen dagegen wurden abgewiesen und die präventiven Festnahmen für rechtmäßig bewertet.

In ähnlicher Weise ging die Polizei 2013 gegen ein besetztes Haus vor, das als Basis der Anti-G8-Proteste diente. In einer spektakulären Aktion drangen BeamtInnen über die Dächer von Nachbargebäuden ein. Auch hier war der Termin für die Durchsuchung bewusst gewählt, um die TeilnehmerInnen der für denselben Tag geplanten Proteste einzuschüchtern.

Einkesselung

Die Polizei hat vor den Gerichten allerdings nicht alles erreicht, was sie wollte. Zwar erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2012 Einkesselungen grundsätzlich für rechtens,[12] im Juni 2013 limitierte der High Court jedoch den Nutzen, den die Polizei aus solchen Kesseln ziehen konnte. Über Jahre hinweg hatte sie DemonstrantInnen nicht nur eingekesselt, sondern sie erst aus der Umzingelung heraus gelassen, nachdem sie fotografiert und ihre Namen, Adressen etc. registriert worden waren. Im Falle einer Juristin, die im November 2011 bei einer Gewerkschaftsdemo gegen Kürzungen diese Behandlung über sich ergehen lassen musste, entschied der High Court, dass zwar Einkesselungen weiterhin möglich seien, aber Fotografien und Identifikation nicht der Preis für eine Freilassung sein dürften.[13]

Extremismus und verdeckte Ermittlungen

Die Enthüllungen über Mark Kennedy und den Einsatz weiterer Verdeckter Ermittler (VE) gegen Protestgruppen hatten bisher nur wenig Effekt auf das Handeln der Behörden. Immerhin waren sie der Anlass für eine offizielle Untersuchung zu den Einheiten zur Bekämpfung des „inländischen Extremismus“, die die VE eingesetzt hatten. Fragen zur fehlenden Kontrolle und zum ausufernden Extremismusbegriff wurden aufgeworfen.

Statt jedoch die Gelegenheit zu nutzen, um dieses dunkle Gebiet polizeilicher Arbeit wenigstens zu begrenzen und für mehr Transparenz zu sorgen, entschieden sich die Behörden für eine Restrukturierung. Die zuvor bestehenden drei Einheiten wurden zu einer zusammengefasst, der National Domestic Extremism Unit (NDEU). Und statt mehr, gab es nun weniger Transparenz: Die NDEU wurde in die von der Metropolitan Police betriebenen nationalen Anti-Terror-Strukturen eingegliedert.[14]

Die Kritik am Fehlen einer genauen Definition des „inländischen Extremismus“ wurde stillschweigend schubladisiert. Die Zuständigkeit der NDEU bleibt extrem breit, und die Sammlung und Auswertung von Daten über Protestbewegungen findet heute im selben Kontext statt wie die zum Terrorismus. Wie der Guardian im Juni 2013 berichtete, führte die Einheit zu diesem Zeitpunkt Daten über fast 9.000 AktivistInnen.[15]

Die Frauen, die in intime Beziehungen zu den Verdeckten Ermittlern gelockt wurden, versuchen nach wie vor, sich gerichtlich zu wehren.[16] Aufgedeckt wurde ferner, dass die Spitzel sich vergeblich bemüht hatten, schmutzige Details über die Familie des 1993 von Rassisten ermordeten Stephen Lawrence herauszufinden, um deren Kampagne gegen Rassismus in der Polizei und die systematischen Fehler bei den Ermittlungen im Fall ihres Sohnes zu diskreditieren. Erst kürzlich wurde eine neue Kampagne gegen polizeiliche Überwachung lanciert.[17] Trotz allen rechtlichen und politischen Drucks unterwandert die NDEU weiterhin Protestgruppierungen mit ihren VE.[18]

Während der Unruhen von August 2011 startete die Einheit eine Intelligence Operation, um die weitere Entwicklung und Ausdehnung der Unruhen einzuschätzen. In der Folge wurde ihr Zuständigkeitsbereich auf ein weiteres Spektrum von Ordnungsstörungen und Ausschreitungen ausgedehnt. Die Einheit wurde in „National Domestic Extremism and Disorder Intelligence Unit“ umbenannt, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie nun auch über größere Kapazitäten zur Überwachung und Auswertung von Sozialen Medien verfügt.

Soziale Medien und Open Source Intelligence (OSINT)

Öffentlich zugängliche Quellen einschließlich Blogs, Internet-Foren und Sozialen Medien (insbesondere twitter und facebook) sind zu einem wichtigen Reservoir von Informationen für staatliche Behörden geworden. Die rechtliche Lage ist nach wie vor unklar, aber deutliche Hinweise belegen, dass die Polizei in diesen neuen Medien Intelligence-Sammlung in größerem Umfang, aber ohne formelle Kontrolle betreibt.[19]

Im August 2011 hatte sie erklärt, dass es ihr an Fähigkeiten zur Überwachung Sozialer Medien mangelte. In seinem „Rules of Engagement“-Bericht empfahl das HMIC wenige Monate später, auch bei der Polizei eine – angeblich bereits von anderen Regierungsstellen genutzte – fortgeschrittene Software einzuführen, die ein umfassendes Data-Mining in Sozialen Medien ermögliche.

Man erwartet sich davon unter anderem eine verbesserte Lageeinschätzung: Ganze Gruppen von Nachrichten sollen automatisch herausgefiltert werden können, ohne dass jede einzelne gelesen werden muss. Die Software soll die Polizei auch zur Analyse von Gefühlslagen befähigen (Sentiment Analysis): Damit soll es technisch möglich werden, aus unstrukturierten Texten Stimmungen (Wut, Angst, Aggression) herauszulesen, selbst wenn eine codierte Sprache verwendet wird. Ziel ist es, „in einem großen Datenpool potenzielle Gefahren leichter erkennen zu können“.

Eine effektive Überwachung Sozialer Medien, so das HMIC weiter, müsse „Anomalien in den Gebrauchsmustern“ feststellen können. Dafür aber muss der Output der Zielpersonen und -gruppen in den Sozialen Medien ständig überwacht werden: „Zum Aufdecken ungewöhnlicher Verhaltensweisen und Ereignisse ist es notwendig, die normale Lage dauerhaft im Auge zu behalten, denn nur dann ist es möglich, die Abweichung von der Norm zu erkennen.“

Wie weit die Empfehlungen des Polizeiinspektorats umgesetzt wurden, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass es für die britische Polizei kaum Restriktionen beim Aufbau eines hoch invasiven Systems zur Überwachung sozialer Medien gibt.

Konventionelle Überwachung

Trotz verdeckter ErmittlerInnen, Videoüberwachung und anderer technischer Überwachungsmethoden braucht die britische Polizei immer noch BeamtInnen, die Fotos oder Videos von DemonstrantInnen aufnehmen. Das Bildmaterial lässt nicht nur die Datenbank über „inländischen Extremismus“ anschwellen, sondern dient auch der Identifizierung von Personen, die im Verdacht stehen, bei früheren Demonstrationen Straftaten begangen zu haben, oder die in Zukunft Delikte begehen könnten. Falls erforderlich setzt die Polizei dazu auch Gesichtserkennungstechnologie ein. Bilder von Leuten, die an Ausschreitungen beteiligt waren, werden zudem routinemäßig veröffentlicht – online, aber auch in lokalen und manchmal selbst in Zeitungen nationaler Bedeutung.

Eingesetzt werden mittlerweile auch „VerbindungsbeamtInnen“, die mit Protestgruppen verhandeln und bei Eskalationen vermitteln sollen. Von ihnen wird allerdings auch erwartet, dass sie ihre Kontakte zur Informationsbeschaffung und Datensammlung nutzen. VerbindungsbeamtInnen, die im Umfeld entsprechender Gruppierungen arbeiten – so heißt es in internen Dokumenten der Metropolitan Police –, seien in der Lage „aus den mit Gruppenmitgliedern geführten Diskussionen Erkenntnisse von hoher Qualität zu gewinnen.“ Gleichzeitig zeigt sich die Polizei besorgt, dass diese Informationsbeschaffungsrolle bekannt werden könnte und Protestierende in Zukunft das Gespräch verweigern.

Anti-Austeritätsprotest unter Kontrolle

Die britische Polizei rühmt sich, nicht nur auf Ausschreitungen zu reagieren, sondern in der Lage zu sein, diese Gefahren bereits im Vorfeld erkennen und verhindern zu können. Wenn dies wie bei den Unruhen von 2011 nicht gelingt, setzt man auf die abschreckende Wirkung drastischer Strafen: Für den Diebstahl einer Flasche Mineralwassers im Wert von 3,50 Pfund wanderte ein Mann sechs Monate ins Gefängnis. Eine Mutter von zwei Kindern kassierte fünf Monate, weil sie sich eine Hose hatte schenken lassen, die aus einem geplünderten Geschäft stammte. Zwei Männer wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie auf Facebook zur Teilnahme an einer Randale aufgerufen hatten – die dann aber gar nicht stattfand.

Die exzessive Überwachung und Kontrolle, durch die sich das britische Polizeisystem auszeichnet, zeigt ihre abschreckende Wirkung aber nicht nur bei Ausschreitungen, sondern in ähnlicher Weise gegenüber allen Formen politischen Protests. Das Vereinigte Königreich ist zwar nicht der Spitzenreiter in Sachen Polizeibrutalität, aber sicher auch kein Leuchtfeuer der politischen Freiheit.

[1] Her Majesty’s Inspectorate of Constabulary (HMIC): The Rules of Engagement. A Review of the August 2011 disorders, London 2011 (www.hmic.gov.uk); Anm. d. Übers.: Der Terminus „rules of engagement“ steht vor allem in der Abkürzung RoE für eine militärische Einsatzdoktrin.
[2] vgl. u.a. Johnston, L.: Policing Britain: Risk, Security and Governance, London 2000
[3] www.bbc.co.uk/news/uk-england-london-17925477
[4] HMIC a.a.O. (Fn. 1)
[5] www.theguardian.com/uk/2012/may/03/metropolitan-police-plastic-bullets-stockpile-riots
[6] www.statewatch.org/news/2012/jul/04ni-plastic-bullets.htm
[7] www.bbc.co.uk/news/uk-england-london-17421040
[8] vgl. HMIC a.a.O. (Fn. 1)
[9] HMIC a.a.O. (Fn. 1), S. 90
[10] www.standard.co.uk/news/uk/met-wants-to-buy-more-armoured-vehicles-to-clear-streets-of-rioters-7445827.html
[11] HMIC a.a.O. (Fn. 1), S. 62
[12] EGMR: Urteil der Grossen Kammer v. 15.3.2012, Fall Austin vs. UK; http://hudoc.echr. coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-109581
[13] Fall Mengesha vs. Metropolitan Police, www.bbc.com/news/uk-22949861
[14] http://content.met.police.uk/Article/Counter-Terrorism-Command/1400006569170/ 1400006569170
[15] www.theguardian.com/uk/2013/jun/25/undercover-police-domestic-extremism-unit
[16] http://policespiesoutoflives.potager.org/
[17] http://campaignopposingpolicesurveillance.wordpress.com/page/2/
[18] www.hmic.gov.uk/media/review-of-national-police-units-which-provide-intelligence-on-criminality-associated-with-protest-20120202.pdf
[19] vgl. u.a. den Bericht des Surveillance Commissioners für 2012-2013: www.gov.uk/ government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/246455/0577.pdf