Zum Schwerpunkt
„Securitization“ bedeutet: Wenn weltweit Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Not, Verelendung und Verfolgung sind, und wenn ein kleiner Prozentsatz es schafft, aus den unsicheren Regionen der Welt sich nach Europa durchzuschlagen, dann wird aus dieser „europäischen Flüchtlingskrise“ sogleich die Gefährdung der Inneren Sicherheit, die willkommenen Vorwand liefert, das Instrumentarium staatlicher Erfassung, Überwachung, Ausgrenzung und Abschottung weiter auszubauen. Flankiert von der Rosinenpickerei um die national nützlichsten Migrant-Innen wird Europa nach außen dicht(er) gemacht und im Innern unwirtlicher für die gestaltet, die man nicht haben will – Elend im Rest der Welt hin oder her. Im Folgenden nur einige kurze Hinweise auf die zeitgenössischen Reaktionen, die die jüngste Entwicklung kritisch begleiten.
Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung, in: vorgänge 214, 2016, H. 2, , S. 10-130 (Schwerpunkt)
Die Beiträge des Schwerpunktes thematisieren verschiedene Problemfelder der „Flüchtlingskrise“: Das Spektrum reicht von einem Überblick über Reichweite und Grenzen des internationalen Flüchtlingsrechts, über die Fluchtursachen im Nahen Osten und die EU-Asylpolitik über die verfassungsrechtliche Prüfung der „Sicheren-Drittstaaten“-Regelung, Berichte über das „beschleunigte Asylverfahren im Ankunftszentrum Heidelberg“, den Umgang des deutschen Asylverfahrens mit Minderjährigen und die Unterbringung von Flüchtlingen bis zu den Herausforderungen für das Demonstrationsrecht und der Terrorismusgefahr als pauschales Argument verstärkter Überwachung.
Flüchtlingsrecht, in: Kritische Justiz 49. Jg., 2016, H. 2, S. 145-239 (Schwerpunkt)
Wer dieses Heft in die Hand nimmt, so Günter Frankenberg in seiner Einleitung zum Schwerpunkt, dürfe nicht „einfache Antworten oder ‚große Würfe‘“ erwarten. Aber „den rechtlichen Schutz von Flüchtlingen zu stärken“, „für ein kooperativ verantwortetes Schutzsystem zu argumentieren, legale Zugangsmöglichkeiten aufzuzeigen, Rechtsberatung zu verbessern, mag wenig erscheinen, aber es ist jedenfalls nicht nichts.“ Damit ist der Focus der sieben Beiträge umschrieben, die sich beschäftigen mit: der europäischen Flüchtlingspolitik, den Zugangsproblemen zum Asylrecht, den „moralischen und politischen Dilemmata“ und den „Blinden Flecken“ der Flüchtlingspolitik, den deutschen „Asylpaketen“, den „Refugee Law Clinics“, dem Zusammenhang von „Xeno-, Islamo-, Christianophobie etc.“. Am Ende des Schwerpunkts steht eine Abrechnung mit der „Obergrenzen“-Diskussion, in deren Windschatten die „Brutalisierung des Diskurses“ fortschreite.
Sonderbrief Rassismus & Recht. RAV-Sonderbrief, April 2016, www.rav.de/publikationen/infobriefe/sonderbrief-rassismus-recht-2016
Die Beiträge des Sonderbriefs des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins schlagen einen Bogen um die Europäische Flüchtlingspolitik: von Calais bis Marokko, von den Niederlanden über die Schweiz, ins Mittelmeer bis zur Türkei, von der Überwachung von Migrierenden bis zur Europäischen Grenzpolitik.
Angenendt, Steffen; Kipp, David; Koch, Anne: Grenzsicherung, Lager, Kontingente: Die Zukunft des europäischen Flüchtlingsschutzes? SWP-Aktuell 30, April 2016, www.swp-berlin.org/de/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktu-ell-detail/article/grenzsicherung_lager_kontingente_zukunft_europaeischen_fluechtlingsschutzes.html
Diese Kurzanalyse der „Stiftung für Wissenschaft und Politik“ sieht im EU-Türkei-Abkommen eine Chance, um „längerfristig tragende Strukturen“ einer europäischen Asylpolitik aufbauen zu können. Die realpolitisch gemeinten Empfehlungen knüpfen an den Vorstellungen der EU-Kommission zur Verteilung von AsylbewerberInnen an, die notfalls nur von einer „Koalition der Willigen“ umgesetzt werden sollten.
Akkerman, Mark: Border Wars. The Arms Dealer Profiting from Europe’s Refugee Tragedy, o.O. 2016, https://www.tni.org/en/publication/border-wars
Diese Untersuchung benennt die Profiteure der Grenzsicherungspolitik: Die großen Rüstungsfirmen verdienen gleichermaßen am Krieg im Nahen Osten (an den Fluchtursachen), wie an der Sicherung der europäischen Außengrenzen.
Aus dem Netz
http://www.borderline-europe.de
Der Berliner Verein „borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.“ will „das Schweigen“ über die europäischen Grenzregime und ihre Folgen „brechen“ und „den Vertuschungsversuchen der Behörden mit präzisen Recherchen in den Grenzregionen entgegenarbeiten“. Die auf den ersten Blick etwas unübersichtliche Seite liefert eine Fülle von Informationen aus verschiedenen Quellen. Während in den Rubriken „Das tägliche Drama“ (Berichte aus Tages- und Wochenzeitungen und anderen Quellen), „Hintergrundinformationen“ (Links auf Berichte und Stellungnahmen) und „News“ auf Beiträge von anderen Personen und Initiativen verwiesen wird, sind unter „Berichte & Bücher“ eigene Publikationen eingestellt: Dabei liegt der geografische Schwerpunkt auf Zypern, Griechenland und Italien. Unter der Rubrik „Links“ werden die Web-Adressen vieler relevanter Gruppen aufgelistet, die Gruppen selbst werden kurz charakterisiert. Alle präsentierten Inhalte sind durch die Suchfunktion der Seite leicht auffindbar.
Auf dieser Seite publiziert der gleichnamige, seit 2011 bestehende Verein seine Aktivitäten. Ziel des Vereins ist „die Auseinandersetzung mit den Politiken, Praktiken und Ereignissen im europäischen Grenzregime und in den Bewegungen der Migration“. Besonders interessant sind die – bislang sieben – publizierten Länderberichte, etwa zu Ungarn (2013, 2016), Bulgarien (2014) oder Italien (2013).
https://calaismigrantsolidarity.wordpress.com
https://beatingborders.wordpress.com
Diese beiden Seiten (auf Englisch und Französisch bzw. Englisch, Französisch und Spanisch) erweitern den Blick auf die europäischen, genauer: Schengen-Außengrenzen: Die „Grenzsicherungsanlagen“, die Übergriffe der Sicherheitskräfte, das Elend der Geflüchteten. Die Bilder und Berichte gleichen sich: sei es im „Dschungel“ von Calais oder vor den spanischen Enklaven in Marokko. (alle: Norbert Pütter)
Sonstige Neuerscheinungen
Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Fachbereich Europa: Konsequenzen des Brexit für den Bereich Inneres & Justiz: Möglichkeiten zukünftiger Kooperationen der EU mit dem Vereinigten Königreich, Berlin 2016, www.bundestag.de/blob/459002/3c8445a483bb3df002dcebd0b3a46edd/pe-6-115-16-pdf-data.pdf
Im Vertrag von Amsterdam erhielt Großbritannien auch im Bereich Inneres und Justiz das Recht, sich an EU-Rechtsakten individuell zu beteiligen (Opt-in bzw. Opt-out). Neben der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft dies Außengrenzen, Asyl, Migration sowie die Zusammenarbeit in Zivilsachen. So übernahm Großbritannien nicht die Richtlinie zu langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen oder die zu Rückführungen. Auf das Visa-Informationssystem haben die Behörden deshalb keinen Zugriff. Demgegenüber profitiert die Regierung von einzelnen Rechtsakten zur Bekämpfung und Verhinderung unerwünschter Migration. Britische Behörden beteiligen sich nicht an Frontex, nehmen jedoch in bilateralen Abkommen an Maßnahmen der Grenzagentur (etwa gemeinsame Abschiebungen) teil. Den Schengen-Besitzstand erkennt Großbritannien nicht an; es ist nicht an die Abschaffung von Kontrollen an den Binnengrenzen gebunden. Von einzelnen Regelungen des Schengen-Besitzstandes machen britische Behörden jedoch Gebrauch, etwa der Rechtshilfe in Strafsachen und (eingeschränkt) dem Zugang zum Schengener Informationssystem.
Nach einem „Block-Opt-out“ in 2014 hat Großbritannien auch den Prüm-Besitzstand zum Informationsaustausch und zur operativen Zusammenarbeit der Polizeibehörden wieder anerkannt. Der „Block-Opt-out“ stellte die Mitarbeit bei der Polizeiagentur Europol infrage, wo Großbritannien derzeit den Direktor stellt. Im Rahmen des Wiedereinstiegs in einzelne Maßnahmen nahm die Regierung nur die Europol-Verordnung von 2009 wieder an. Kurz vor der Brexit-Abstimmung beschlossen das Europäische Parlament und der Rat jedoch die neue Europol-Verordnung, die ab 1. Mai 2017 gilt und alle früheren Beschlüsse ersetzt. Es ist kaum denkbar, dass die neue Regierung nach dem Brexit-Votum die Annahme erklärt. Spätestens ab Frühjahr nächsten Jahres, so die Schlussfolgerung des Wissenschaftlichen Dienstes, müsste sich Großbritannien also aus Europol zurückziehen. (Matthias Monroy)
Wolf, Maximilian Sönke: Big Data und Innere Sicherheit. Grundrechtseingriffe durch die computergestützte Auswertung öffentlich zugänglicher Quellen im Internet zu Sicherheitszwecken, Marburg (Tectum Verlag) 2015, 304 S., 34,95 EUR
Über den Kurznachrichtendienst Twitter werden derzeit täglich rund 500 Millionen Nachrichten verschickt, bei anderen ist es ähnlich. Spitzenreiter bei den sozialen Medien ist erwartungsgemäß Facebook, wo binnen 24 Stunden im Durchschnitt 300 Millionen Bilddateien und fast drei Milliarden „Likes“ anfallen.
Riesenmengen also, die mit herkömmlichen Speicher- und Analysemethoden nicht mehr erfasst, bearbeitet und ausgewertet werden können. Und natürlich sind unter einem solchen Aufkommen auch etliche, für die sich die Sicherheitsbehörden interessieren. Zu denken ist hierbei zunächst etwa an die Propaganda- und Hinrichtungsvideos des „Islamischen Staates“ (IS) und ähnlicher Organisationen. Mit welchem Aufwand Geheimdienste solche und andere Informationen aus dem Netz fischen, weiß man spätestens seit der NSA-Affäre aufgrund der Enthüllungen Edward Snowdens. Aber auch RechtsextremistInnen, linke AktivistInnen, Kriminelle und fragwürdige Einzelpersonen sind im großen WWW unterwegs. Die Mobilisierung zu Aktionen und Versammlungen findet mittlerweile überwiegend über das Internet statt. Deswegen interessieren sich natürlich auch der Staatsschutz und andere Kommissariate der Polizei dafür.
In seinem Buch untersucht Wolf, ob und in welche Grundrechte die Nutzung der Technologie dabei eingreift, die zur automatisierten und teilweise flächendeckenden Auswertung öffentlich zugänglicher Inhalte eingesetzt wird. Im Grunde also ein längst überfälliges Buch. Einfach zu lesen ist es für den gewöhnlichen Nutzer als digitalem Laien allerdings nicht. Zu empfehlen wäre die Lektüre indes sowohl den Datenschutzbeauftragten wie auch den Anwendern bei Polizei und Geheimdiensten. Dass dies sich jedoch erfüllen wird, ist zumindest zweifelhaft. (Otto Diederichs)
McCulloch, Jude; Wilson, Dean: Pre-Crime. Pre-emption, precaution and the future, London (Routledge) 2016, 154 S., £ 137,60
Diese acht recht redundanten Kapitel – jedes mit eigener Literaturliste (von insgesamt 23 Seiten) – sind kein Nachdruck bereits in Fachzeitschriften erschienener Beiträge (trotz der Struktur des Buchs), keine Aufarbeitung des gegenwärtigen Hype rund um predictive policing (trotz des Titels) und auch nicht in erster Linie eine Frechheit (trotz des Verkaufspreises), sondern ein Versuch, jüngere Entwicklungen bei Polizei und im Justizsystem – für Australien, Großbritannien und die USA – auf einen (neuen) Punkt zu bringen: der Verfolgungs- und Strafapparat, so die These, schaut nach vorn – nur noch nach vorn.
Die ersten beiden Kapitel erarbeiten eine Definition von pre-crime. Die herkömmliche Strafjustiz (traditional criminal justice, TCJ) richtet den Blick auf vergangene Kriminalität, das risikobasierte System (crime risk, CR) identifiziert Bedrohungen, pre-crime (PC) kümmert sich um nicht identifizierte Bedrohungen; im Zentrum steht jeweils das vollendete (TCJ), das bevorstehende (CR) bzw. nicht bevorstehende, aber vorstellbare Verbrechen (PC). Entsprechend zielt TCJ auf die Bestrafung begangener Straftaten, CR auf die Prävention von Wiederholungstaten und PC auf vorauseilende Antizipation möglicher Verbrechen (pre-emption of anticipated crime). Entsprechende Untersuchungen starten bei TCJ mit der Unschuldsvermutung und setzen Beweise vor staatlichen Zwangsmaßnahmen voraus. CR beginnt mit Blick auf die bisherige Kriminalitätskarriere des Delinquenten und dem Verdacht, sie könne sich fortsetzen, wobei bereits das für Zwangsmaßnahmen reicht. PC gilt bereits allgemeiner Verdacht als Maß und Mitte: auf Vermutungen basierende Erkenntnisse reichen für staatliche Zwangsmaßnahmen.
Pre-crime zielt auf als besonders gefährlich wahrgenommene Bedrohungen und, anders als risikobasierte Überlegungen, „does not look to previous convictions or conduct that suggests imminent crime as a foundation for coercive interventions aimed at forestalling future crime” (S. 29). Einkalkulierte Kollateralschäden sind inklusive, wie die nachfolgenden vier Kapitel zeigen. So darf etwa der bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene britische Fußballfan nicht ins Stadion, wenn er als Bedrohung eingeschätzt wird, und die unlängst in Injunctions Preventing Nuisance and Annoyance (IPNAs) umbenannten und im Anwendungsbereich verbreiterten Anti Social Behaviour Orders verfolgen den gleichen Zweck (S. 21, 41). Die 2005 in Australien und Großbritannien in Kraft getretenen Control Orders zwingen auch diejenigen, die keine Straftat begangen haben, unter ein Regime, das ihre Bewegungsfreiheit räumlich und zeitlich einschränkt, ihnen ein verabredetes Treffen oder eine spezifische (Berufs)Tätigkeit verbietet (S. 58 ff.). Zu 24 Jahren Haft etwa wurde 2006 der aus einem Trainingscamp der Taliban zurückkehrende US-Bürger Hamid Hayat verurteilt „for who he was rather than what he did or intended” (S. 66), denn verurteilt wurde er, weil er als „fähig“ galt, eine Straftat zu begehen (United States vs. Hayat, CR-05-00240-GEB).
Das entsprechende technologische ABC (Algorhitmen, Big Data, CCTV) schlüsselt Kapitel 5 mit Verweis auf Legionen von Datenspeicherungs- und Verarbeitungsprogrammen des sicherheits-industriellen Komplexes und ihrer Logiken auf. Unternehmen wie Seisnet Inc., das 120.000 Personen identifizierte, die „statistisch“ als Terroristen in Frage kämen (S. 79), und IBM, für deren Algorhitmen gilt, „there is little difference between a shampoo purchase and the decision to commit armed robbery” (S. 84), sowie das Chicago Police Department, deren Algorhitmen eine „heat list” der 400 gefährlichsten ChicagoerInnen „in an unbiased, quantative way” erarbeitet haben, verweisen letztlich zurück ins 19. Jahrhundert und zu Cesare Lombroso mit seinen geborenen Kriminellen – und nach vorn zur biosozialen Kriminalpolitik und zur israelischen Firma Suspect Detection Systems, die aus psycho- und physiologischen Daten Terroristen lesen will (S. 87). Kapitel 6 widmet sich den Geheimdiensten FBI (USA), MI5 (Großbritannien) und ASIO (Australien), ihren zunehmenden polizeilichen Befugnissen, den Opfern extraordinary renditions und der Weigerung von Staaten und Gerichten, aus Geheimdienstinformationen generierte Anklagen und Materialien der Verteidigung vollumfänglich zur Kenntnis zu geben (S. 100 ff.), Kapitel 7 referiert den Einsatz von Informanten und V-Leuten, die es unter Bedingungen von pre-crime unmöglich machten, zwischen Entdeckung und Produktion von Straftaten zu unterscheiden, Kapitel 8 resümiert die Ergebnisse und will mit Ernst Bloch Hoffnung machen, auch wenn „we have not drawn out numerous counter currents” (S. 141).
McCulloch und Wilson haben sich auf den angelsächsischen Bereich beschränkt. Für den deutschen Kontext sind das Diktum des bis 2014 tätigen BKA-Chefs Jörg Ziercke, „wir müssen vor die Lage kommen“, ebenso relevant wie die Begriffe „Vorwärtsverrechtlichung“ (W.-D. Narr) und „Feindstrafrecht.“ Was den AutorInnen in ihrer materialreichen Studie gelingt, ist die kenntnisreiche Beschreibung partieller Auflösung bürgerlichen Rechts, ihre (aus der Not, ein Buch produzieren zu wollen, geborene?) These allerdings, pre-crime sei „purely forward looking” (S. 21, 29, 30, 138, Hervorh. im Orig.), können sie nirgends untermauern. (Volker Eick)