von Marius Kühne
Hessen plant, wie bereits andere Bundesländer, ein Landesversammlungsgesetz. Bezüglich vieler Fragen würde dies schlicht die bestehende Rechtsprechung fortschreiben und könnte daher mehr Rechtsklarheit schaffen. Allerdings soll die Polizei Versammlungen auch umfassend überwachen und unter geringen Voraussetzungen in das Geschehen eingreifen dürfen. Progressive Ansätze wie die Abschaffung versammlungsspezifischer Strafvorschriften fehlen hingegen. Der Gesetzesentwurf der schwarz-grünen Regierung wird der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit daher nicht gerecht.
Das Versammlungsgesetz des Bundes ist hoffnungslos veraltet und gibt unkundigen Leser*innen teilweise einen verfälschten Eindruck der Rechtslage. So legt etwa § 14 Abs. 1 Bundesversammlungsgesetz (BVersG) fest, dass eine Demonstration, „spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde … anzumelden“ sei. Dabei ist allgemein anerkannt, dass als Reaktion auf aktuelle Ereignisse auch kurzfristige Eil- oder Spontanversammlungen zulässig sind. Im Gesetzestext findet sich dazu jedoch nichts. Genauso nennt § 3 Abs. 1 BVersG das Verbot, „in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen“, verschweigt jedoch, dass Streikwesten, Arbeitskleidung, Fußballtrikots o. ä. hiervon nicht umfasst sind. Das sogenannte Uniformverbot gilt nach der Rechtsprechung nur, wenn die Kleidung eine „suggestivmilitante“, einschüchternde Wirkung gegenüber Dritten erzielt. Dieser Zustand, dass das geschriebene Recht sich von der tatsächlichen Rechtslage erheblich unterscheidet, ist im besonders grundrechtssensiblen Bereich der Versammlungsfreiheit ein Ärgernis.
Dass das Bundesversammlungsgesetz nicht weiterentwickelt und an die Rechtsprechung angepasst wird, liegt daran, dass seit der Föderalismusreform 2006 die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht bei den Ländern liegt. Davon haben bisher Bayern (2008), Sachsen-Anhalt (2009), Niedersachsen (2010), Sachsen (2012), Schleswig-Holstein (2015) sowie Berlin und Nordrhein-Westfalen (beide 2021) Gebrauch gemacht und eigene Landesversammlungsgesetze beschlossen. Der Vergleich der zuletzt von einer rot-rot-grünen Koalition in Berlin und von einer schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf verabschiedeten Gesetze zeigt dabei parteipolitische Unterschiede in der Versammlungsgesetzgebung auf: Während das Berliner Gesetz trotz einiger Defizite als das wohl liberalste Landesversammlungsgesetz gelten kann, scheint das Gesetzgebungsvorhaben in NRW von einer größtmöglichen Abneigung gegen den grundrechtlich geschützten Gebrauch der Versammlungsfreiheit getragen zu sein.[1]
Gesetzesentwurf in Hessen: nicht nur Klarstellungen
Im November 2021 legte nun auch die hessische Landesregierung einen Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Versammlungsrechts (VersG-E HE) vor.[2] Dieser ist in seiner Struktur weitgehend an dem zuletzt in NRW beschlossenen Gesetz sowie einem von Wissenschaftlern erarbeiteten Mustergesetzentwurf für ein Versammlungsgesetz orientiert.[3] Für Rechtsanwender*innen ist ein solches modernes Landesversammlungsgesetz erst einmal vorteilhaft, da es eine Vielzahl von Detailfragen verbindlich und systematisch regelt. So sieht etwa § 12 VersG-E HE im Einklang mit der Rechtsprechung vor, dass die Anmeldefrist für Eilversammlungen verkürzt wird (Abs. 5) oder für Spontanversammlungen entfallen kann (Abs. 6). Derartige für die Praxis hilfreiche Klarstellungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gesetzesentwurf auch etliche versammlungserschwerende Setzungen enthält. Hinsichtlich der Anzeige (umgangssprachlich: Anmeldung) von Versammlungen, die im Regelfall weiterhin 48 Stunden vor der Durchführung der Versammlung erfolgen muss, schreibt § 12 Abs. 1 S. 2 VersG-E HE vor, dass „bei der Berechnung der Frist Sonn- und Feiertage außer Betracht“ bleiben. Faktisch erhöht sich damit in bestimmten Konstellationen die Anmeldefrist, ohne dass es dafür einen schlüssigen Grund gäbe. Große Versammlungen mit hohen Teilnehmer*innenzahlen, die z. B. umfassende Verkehrsumleitungen erforderlich machen, werden ohnehin bereits lange im Vorfeld angekündigt und beworben, für kleine Versammlungen ist eine Anmeldung 48 Stunden vor Beginn in der Regel völlig ausreichend. Eine vergleichbare Regelung im nordrhein-westfälischen Entwurf für ein Landesversammlungsgesetz wurde deshalb auch nach kritischen Äußerungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gestrichen.
Auch eine andere Parallele zum nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetz hat das Potential, Veranstalter*innen von Versammlungen von der Wahrnehmung ihres Grundrechts abzuhalten. Nahezu wortgleich zu § 12 Abs. 2 VersG NRW normiert § 12 Abs. 8 VersG-E HE die Pflicht der Versammlungsleitung, der Polizei auf Anforderung die persönlichen Daten der vorgesehenen Ordner*innen mitzuteilen. Voraussetzung dafür soll lediglich die polizeiliche Sorge sein, dass von der Versammlung (nicht von den jeweiligen Ordner*innen!) eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht – was mit Gefahren für den Straßenverkehr bei nahezu jeder Versammlung gegeben sein dürfte. Die Vorschrift ist rechtspraktisch und politisch hochproblematisch: Veranstalter*innen organisieren die Ordner*innen häufig spontan, verfügen also im Vorfeld der Versammlung in der Regel gar nicht über die von der Polizei verlangten Daten. Zudem re-krutieren sich Ordner*innen häufig aus dem Umfeld der Veranstalter*innen, insbesondere wenn Bündnisse verschiedener Gruppen gemeinsam eine Demonstration veranstalten. Gerade bei politisch kontroversen Anliegen, etwa aus dem Bereich des Antifaschismus oder der Klimagerechtigkeit, fürchten die Beteiligten aus nachvollziehbaren Gründen eine Erfassung und Ausforschung durch die Polizei. Die Vorschrift des § 12 Abs. 8 VersG-E HE könnte dazu führen, dass sich für solche gesellschaftlich wichtigen Anliegen zukünftig weniger Ordner*innen finden, was die Wahrnehmung des Versammlungsrechts erschweren würde. Es ist zudem damit zu rechnen, dass die derart erhobenen Daten regelmäßig an den polizeilichen Staatsschutz sowie Verfassungsschutzbehörden übermittelt werden. Dafür erforderliche Regelungen zur Datenverarbeitung und Datenübermittlung sieht der Gesetzesentwurf jedoch nicht vor. Auch fehlt es an den obligatorischen datenschutzrechtlichen Vorkehrungen für sensible personenbezogene Daten, u. a. zu politischen und weltanschaulichen Ansichten, wie sie mit dem Versammlungskontext regelmäßig verbunden sind. Damit bereitet die Norm Verstößen gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung den Weg.
Vorsicht: Überwachung!
Ebenfalls dem nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetz nachgebildet sind die weitreichenden Befugnisse zur Videobeobachtung und ‑aufzeichnung. Wie schon nach § 12a Abs. 1 BVersG soll es in Hessen der Polizei auch zukünftig erlaubt sein, Bild- und Tonübertragungen in Echtzeit sowie entsprechende Aufzeichnungen anzufertigen, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen“, dass von einer Person innerhalb der Versammlung eine „erhebliche Gefahr“ ausgeht (§ 17 Abs. 2 VersG-E HE). Rechtsstaatlich bedenklich sind jedoch vor allem die sogenannten „Übersichtsaufnahmen“, die mit dem Gesetz neu eingeführt würden. Diese dürfen zur „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ angefertigt werden, wenn dies „wegen der Größe und Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich ist“ (§ 17 Abs. 2 VersG-E HE). Problematisch ist daran vor allem die geringe Eingriffsschwelle für das polizeiliche Filmen. Nahezu jede Versammlung weist eine gewisse Unübersichtlichkeit auf; die Gesetzesbegründung geht selbst davon aus, dass diese auch bei kleinen Versammlungen mit unter 100 Teilnehmenden gegeben sein kann.[4] Filmaufnahmen haben jedoch immer eine potentiell einschüchternde Wirkung, die sich durch technische Entwicklungen wie automatisierte Gesichtserkennung noch verstärken kann. Versammlungsteilnehmer*innen müssen damit rechnen, durch den Staat in ihrer politischen Betätigung erfasst zu werden. Die Übersichtsaufnahmen dürfen beim Vorliegen einer erheblichen Gefahr auch dafür genutzt werden, einzelne Versammlungsteilnehmer*innen zu identifizieren. Zwar muss die Polizei die Versammlungsleitung über die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen oder ‑aufzeichnungen informieren, für Teilnehmer*innen ist jedoch nicht ersichtlich, zu welchem Zweck gefilmt wird.
Immerhin unterscheidet sich der hessische Gesetzesvorschlag von seinem nordrhein-westfälischen Pendant, indem er vorschreibt, dass die Übersichtsaufnahmen nur offen angefertigt werden dürfen (§ 17 Abs. 2 S. 1 VersG-E HE). In NRW ist dies sogar heimlich zulässig (§ 16 Abs. 3 S. 3 VersG NRW). Grundrechtsschonender wäre es jedoch gewesen, auf das Instrument der Übersichtsaufnahmen vollständig zu verzichten oder wenigstens, wie es das Berlin Versammlungsgesetzt vorsieht (§ 18 Abs. 2 VersG BE), die Identifizierung von Einzelpersonen mittels Übersichtsaufnahmen zu untersagen.
Die Überwachung von Versammlungsteilnehmer*innen kann grundsätzlich auch durch eingesetzte Zivilpolizist*innen erfolgen. Wenngleich gegen diese Vorschrift vermutlich regelmäßig verstoßen wurde, galt bisher, dass sich Polizeibeamt*innen in Zivil der Versammlungsleitung zu erkennen geben müssen (§ 12 BVersG). In § 11 S. 2 VersG-E HE wird diese Pflicht nun dahingehend abgeschwächt, dass es ausreichen soll, dass die Einsatzleitung den Leiter*innen einer Versammlung allgemein mitteilt, das zivile Polizeikräfte eingesetzt werden. Dies trägt zwar der Versammlungsfreiheit eher Rechnung, als die Pflicht wie in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt vollständig abzuschaffen, ist aber dennoch aus bürgerrechtlicher Sicht ein Rückschritt gegenüber der bisher geltenden bundesgesetzlichen Regelung.
Die Anwesenheit uniformierter Polizeieinheiten birgt hingegen andere Probleme: Sie hat einerseits ein Abschreckungspotential für potentielle Teilnehmer*innen, indem sie suggeriert, von einer Versammlung gingen Gefahren aus. Andererseits erschwert eine starke Polizeipräsenz die kommunikative Außenwirkung einer Versammlung gegenüber der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist § 11 S. 1 Nr. 1 VersG-E HE kritisch zu sehen, der für ein Anwesenheitsrecht der Polizei bei öffentlichen Versammlungen lediglich voraussetzt, dass „dies zur polizeilichen Aufgabenerfüllung nach diesem Gesetz erforderlich ist“. Damit gibt die Gesetzgebung keinerlei Eingriffsschwelle für die polizeiliche Präsenz bei Versammlungen vor bzw. stellt diese ausschließlich in das Ermessen der Einsatzkräfte.
Licht und Schatten bei der Bestimmtheit
Wie weit polizeiliche Befugnisse reichen, hängt auch davon ab, ob und wie klar gesetzlichen Hürden für das polizeiliche Eingreifen und Kriterien für straf- und bußgeldbewehrte Verhaltensweisen durch die Versammlungsteilnehmer*innen definiert sind. Versammlungsbeschränkende Maßnahmen durch die Polizei setzen in der Regel das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus. Einige Landespolizeigesetze und auch das Bundesversammlungsgesetz sehen zudem vor, dass die Polizei bereits bei einer unmittelbaren Gefährdung der „öffentlichen Ordnung“ einschreiten darf. Der Begriff der öffentlichen Ordnung nimmt auf die „jeweils herrschende sozialen und ethischen Anschauungen“ Bezug.[5] Er ist mangels klarer Abgrenzbarkeit ungeeignet, Freiheitseinschränkungen in besonders grundrechtssensiblen Bereichen zu rechtfertigen. Zudem hat die Versammlungsfreiheit als Minderheitengrundrecht gerade die Funktion, die sozial-ethischen Anschauungen der Mehrheit in Frage zu stellen, um zukünftig andere gesellschaftliche Mehrheiten zu erkämpfen.[6] Aus diesen Gründen haben bereits Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und auch Berlin, das allerdings zugleich ähnlich vage eine irgendwie vermittelte „Gewaltbereitschaft“ allein zum Eingriffskritierium macht,[7] den Begriff aus ihren Versammlungsgesetzen gestrichen. Der Entwurf in Hessen hält dennoch an dem überkommenen Schutzgut der „öffentlichen Ordnung“ fest.
Demgegenüber scheint die Formulierung des sog. „Uniform-, Militanz- und Einschüchterungsverbots“ (§ 9 Abs. 1 VersG-E HE) besser gelungen zu sein. Danach ist es „verboten, in einer Versammlung 1. Uniformen, Uniformteile oder uniformähnliche Kleidungsstücke zu tragen oder 2. paramilitärisch aufzutreten oder in vergleichbarer Art und Weise mit anderen Personen zusammenzuwirken, wenn dadurch der Eindruck von Gewaltbereitschaft vermittelt oder eine einschüchternde Wirkung erzeugt wird.“ Im Gegensatz zum Gewalt- und Einschüchterungsverbot in NRW knüpft § 9 Abs. 1 VersG-E HE am individuellen Verhalten an und nicht an der Leitung von oder Teilnahme an Versammlungen, in denen das Verhalten einiger Teilnehmer*innen „militant“ wirkt. Zudem wird versucht, durch weitere Kriterien das paramilitärische Auftreten oder vergleichbare Zusammenwirken näher zu spezifizieren, indem etwa „das Marschieren in Marschordnung, das Erteilen militärischer Kommandos oder andere besondere Begleitumstände“ (§ 9 Abs. 1 S. 2 VersG-E HE) als beispielhafte Verhaltensweisen genannt werden. Zwar wirkt positiv, dass anders als in § 27 Abs. 8 VersG NRW ein Zuwiderhandeln nur mit einem Bußgeld und nicht als Straftat geahndet wird. Wünschenswert wäre jedoch gewesen, das Verbot analog zum Berliner Versammlungsgesetz dahingehend zu beschränken, dass das Verhalten nicht nur Gewaltbereitschaft vermitteln und einschüchternd wirken kann, sondern auch dazu „bestimmt“ ist, also angenommen werden kann, dass die Wirkung intendiert ist (§ 9 Abs. 2 VersG BE). Sorge bereitet hier zudem die Gesetzesbegründung, die bereits das Zusammenschließen zu thematischen Blöcken bei „linksextremistischen Versammlungen“ als Ausdruck von „Gewalt- und Kampfbereitschaft“ bezeichnet.[8] Dies verkennt die Gestaltungsfreiheit von Versammlungen.
Gefahrenperspektive statt Versammlungsfreiheit
Im Versammlungsrecht zeigt sich, wie ein Staat mit unbequemen Protesten gegen die von der parlamentarischen Mehrheit getragene Politik umgeht. Das Versammlungsrecht soll dabei vor allem gesellschaftliche Minderheiten darin schützen, ihre Position auf die Straße zu tragen und gegenüber der politisch repräsentierten Mehrheit der Wahlberechtigten zu artikulieren. Damit ist ein vielfältiges Versammlungsgeschehen Wesensmerkmal einer lebendigen Demokratie. Der hessische Gesetzesentwurf scheint Versammlungen jedoch primär als eine Gefahr zu betrachten, der durch umfassende Überwachungsmaßnahmen sowie Erschwernisse bei der Anmeldung begegnet werden soll. Sollte der Gesetzesentwurf so vom Landtag beschlossen werden, stellt sich überdies die Frage, wo die grüne Handschrift des kleineren Partners einer der schwarz-grünen Koalition zu erkennen sein soll. Der Gesetzestext liest sich weitgehend wie klassische CDU-Politik.
Progressive Elemente sucht man hingegen vergeblich. Beispielsweise hätten drei Jahre Pandemie, in denen auf Demonstrationen regelmäßig FFP2-Masken getragen wurden, einen Anlass bieten können, das strafbewehrte Vermummungsverbot zu lockern. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsprechung zuletzt sogar das Tragen einer Vermummung zum Schutz vor Bildaufnahmen durch Fotograf*innen der extremen Rechten als strafbar ansah (und nicht nur die Vermummung gegenüber der Polizei).[9] Auch hätte die Anzeige kleiner Versammlungen erleichtern werden können, anstatt das Verfahren insgesamt zu erschweren. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, dass für Kleinstversammlungen mit wenigen Personen die gleichen Pflichten gelten wie für Großdemonstrationen mit vielen Tausend Teilnehmer*innen. Wünschenswert im Sinne der Versammlungsfreiheit wäre zudem eine Verpflichtung der Versammlungsbehörde, den Anmelder*innen von Versammlungen Einsicht in alle Dokumente der Gefahrenprognose zu gewähren und etwaige Auflagen frühzeitig zu erteilen, um deren gerichtliche Überprüfung noch vor Beginn der Versammlung zu ermöglichen. Auch sollten progressive Versammlungsgesetze ausdrückliche Regeln zum Schutz von Pressevertreter*innen, zum Zugang für parlamentarischen Beobachter*innen sowie zur Befugnis aller Versammlungsteilnehmer*innen, den Polizeieinsatz zu filmen, enthalten.
Grundsätzlich schaffen die detaillierten Regelungen im geplanten Landesversammlungsgesetz, gegenüber dem nur durch die Rechtsprechung erneuerten Bundesgesetz, Rechtssicherheit. Dieser Vorteil darf jedoch nicht über die weitreichenden neuen Überwachungsbefugnisse der Polizei hinwegtäuschen, die der Gesetzentwurf vorsieht. Zudem enthalten bereits die Klarstellungen zur Bundesrechtsprechung bisweilen versteckte Einschränkungen des Versammlungsrechts. So legt etwa § 19 VersG-E HE zwar fest, dass Versammlungen auch auf den Privatgrundstücken von Unternehmen, die in öffentlicher Hand sind, durchgeführt werden dürfen und setzt damit das sog. Fraport-Urteil[10] des Bundesverfassungsgerichts um. Der deutlich weiterreichende „Bierdosenflashmob“-Beschluss[11] des Gerichts, der die Versammlungsfreiheit auf alle Flächen im Privatbesitz ausdehnt, die der Öffentlichkeit (etwa zu kommerziellen Zwecken) zugänglich gemacht wurden, findet sich jedoch nicht – wie in NRW im Gesetz (§ 21 S. 1 VersG NRW ) – wieder. Hier drängt sich die Vermutung auf, dass der zunehmenden Nutzung privater Flächen im Eigentum von Konzernen durch die Klimagerechtigkeitsbewegung zu Protestzwecken entgegengewirkt werden soll.
Im Herbst 2023 wird der hessische Landtag neu gewählt. Die Regierungskoalition wird versuchen, das Landesversammlungsgesetz zuvor zu verabschieden. Zu hoffen bleibt, dass sich die Abgeordneten zur Entschärfung des Gesetzesentwurfes durchringen können. Dafür braucht es eine (hessische) Zivilgesellschaft, die sich gegen die Einhegung des Versammlungsrechts zur Wehr setzt – am besten auf der Straße.