Grenzenlos – Die Internationalisierung europäischer Polizeieinsätze

von Mark Holzberger

Polizeieinsätze, die der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben der Europäischen Union dienen, sollen künftig nicht mehr durch die Mitgliedstaaten allein durchgeführt werden. Drei Formen einer solchen Europäisierung werden zur Zeit in der EU diskutiert, vorbereitet und teilweise auch schon betrieben: der Aufbau einer EU-Außengrenzpolizei, eines Netzwerks polizeilicher Verbindungsbeamter sowie von Polizeiverbänden für ein sogenanntes ziviles Krisenmanagement.

Auf der Tagung der Innen- und Justizminister der EU am 15./16. März 2001 präsentierte Bundesinnenminister Otto Schily erstmals öffentlich seine Idee einer Europäischen Grenzpolizei, die „einen wirksamen Schutz“ der nach der EU-Osterweiterung rund 3.000 Kilometer langen neuen Außengrenzen sicherstellen könnte.[1] Kein Geistesblitz Schilys: Schon im Oktober 2000 hatte der brandenburgische Justizminister Kurt Schelter – ehemals Staatssekretär unter Schilys Amtsvorgänger Manfred Kanther – mit ähnlichen Vorschlägen aufgewartet: Mit der Ostverschiebung der EU-Außengrenzen würden Kapazitäten beim Bundesgrenzschutz frei. „Bis zu 10.000 Beamte“ könnten dann „für eine mögliche ‚Schengen-Grenztruppe‘ zur Verfügung“ gestellt werden.[2]

Ein derartiges Vorhaben wirft nicht nur Fragen nach Größe, Zusammensetzung, Kommandostruktur und genauem Einsatzort dieser Verbände auf. Offen ist auch, auf welcher rechtlichen Grundlage sie tätig werden könnten, und schließlich, wie die gerichtliche und parlamentarische Kontrolle einer solchen neuen EU-Polizei zu organisieren wäre. Das Bundesinnenministerium (BMI) hat denn auch die Idee seines Chefs noch nicht weiterentwickelt. Der verweist stattdessen auf die Langfristigkeit des Projekts.

Die Grenzpolizei-PlanerInnen sind auch nicht unter Zeitdruck. Zwar sollen die ersten Kandidatenländer ab 2005 der EU beitreten. Selbst dann werden die Kontrollen an den bisherigen Außengrenzen jedoch nicht automatisch aufgehoben. Erst wenn die EU zu dem Ergebnis kommt, dass ein neuer Mitgliedstaat in der Lage sei, den „Besitzstand“ des Schengener Abkommens auch tatsächlich zu gewährleisten – wahrscheinlich Jahre nach dem eigentlichen EU-Beitritt -, werden die Außengrenzkontrollen von der deutschen z.B. an die polnische Ostgrenze verlagert.

Verbindungsbeamte – vorverlagerte Grenzkontrolleure

„Schleuserrouten möglichst früh, weit vor den EU-Außengrenzen, unterbrechen“ – das ist das Ziel des zweiten Vorschlags, den Schily im März seinen RatskollegInnen unterbreitete. Damit soll gegen die angeblich ansteigende Flucht- und Migrationsbewegung über die Länder des westlichen Balkans vorgegangen werden.[3] Erreicht werden soll das Ziel der Vorverlagerung der Grenzkontrollen durch die Entsendung von Verbindungsbeamten in Drittstaaten.

Ursprünglich waren Verbindungsbeamte ein Instrument der grenzüberschreitenden kriminalpolizeilichen Kooperation (z.B. bei der Bekämpfung illegalisierter Drogen). Nunmehr werden sie – wie am Beispiel der Länder des ehemaligen Jugoslawiens gezeigt werden soll – systematisch in das Grenzkontrollregime der EU eingefügt. Damit kommt es auch zu einer Erweiterung der Aufgabenstellung.

Mehr als 300 Verbindungsbeamte haben die EU-Staaten derzeit weltweit stationiert – über die Hälfte in Europa, mehrheitlich innerhalb der EU. In Zentral- und Südamerika – aber auch in den GUS-Staaten – unterhält die EU kooperative Netzwerke von nationalen Verbindungsbeamten. An einzelnen Einsatzorten kommt es jedoch zu einer aus Sicht der EU problematischen und übermäßigen Konzentration. In Bangkok etwa arbeiten 13 Beamte aus neun, in Moskau 14 Beamte aus zehn EU-Mitgliedsländern. Deren Einsätze seien immer noch – so wird geklagt – an nationalen Interessen orientiert und nicht europäisch koordiniert.[4]

Im Juli letzten Jahres – unmittelbar nach der Tragödie von Dover, bei der 58 heimliche GrenzgängerInnen aus der VR China in einem LKW erstickten[5] – präsentierte die französische EU-Präsidentschaft einen „Aktionsplan zur besseren Kontrolle über die Einwanderung“. Paris schlug vor, polizeiliche Verbindungsbeamte künftig verstärkt in das EU-System zur Früherkennung von Flucht- und Migrationsbewegungen einzubeziehen. Der Einsatz in den Herkunfts- und Transitländern von Flüchtlingen und MigrantInnen sei „rationeller“ zu gestalten. Verbindungsoffiziere eines Landes sollten so bald als möglich die Abschottungsinteressen anderer EU-Länder an ihrem Einsatzort mitvertreten und „Aktionen von gemeinsamem Interesse“ durchführen.[6]

Im darauf folgenden November veranstaltete die EU in Funchal auf Madeira eine Konferenz über „Verbindungsbeamte und Einwanderung“, bei der erstmals operative Vorschläge für die Weiterentwicklung des Verbindungsbeamten-Konzepts präsentiert wurden.[7] Bislang, so hieß es da, seien die Beamten vornehmlich an internationalen Flughäfen in Drittstaaten als sog. ALOs (Airline Liaison Officers) eingesetzt worden, um dort die Fluggesellschaften zur Kontrolle der Reisenden anzuhalten. Zukünftig sollen sie als sog. ILOs (Immigration Liaison Officers) mit einem „erweiterten Aufgabenbereich“ zu einem „bevorzugten Instrument“ der vorverlagerten Einwanderungs- und Flüchtlingsabwehr aufgewertet werden. Zur Wahrung gemeinsamer Interessen der EU-Mitgliedstaaten sollten ILOs dann in gemeinsamen Teams und unter einem einheitlichen Verhaltenskodex operieren. Sie sollen also nicht mehr – wie bisher – nur die Beschäftigten der Botschaften bzw. Beförderungsunternehmen z.B. beim Erkennen gefälschter Dokumente beraten, sondern auch die Behörden im Einsatzland – insbesondere die Grenzpolizei und die Ausländerbehörden – unterstützen und trainieren. Wichtigste Aufgabe der ILOs bleibe aber nach wie vor das Gewinnen und der Austausch von Informationen über gefälschte Reisedokumente sowie über die von MigrantInnen und Flüchtlingen benutzten Reiserouten und Beförderungsunternehmen. Daneben will man „Personenprofile“ über heimliche GrenzgängerInnen erstellen und nicht nur in die EU übermitteln, sondern auch – auf Grundlage von vertraglichen Vereinbarungen – den Behörden am Einsatzort zur Verfügung stellen.

Ca. 40-50.000 ChinesInnen würden sich in Jugoslawien aufhalten, um von dort aus unerlaubt in die EU einzureisen, so hatte Italien Anfang August 2000 dem Frühwarnsystem der EU mitgeteilt. Die „illegalen“ Migrationsbewegungen über die Länder des westlichen Balkans seien seit 1999 um 30-40% gestiegen.[8] Diese Menschen versuchten – immer wieder mit tödlichen Folgen[9] – entweder über Italien oder Österreich in die EU zu gelangen. Mit dieser Warnung gab Rom den Startschuss für eine erstmalige Erprobung der Instrumente zur Flüchtlingsabwehr, die seit dem Beginn der kurdischen Massenflucht 1997 im Rahmen der damaligen Schengen-Kooperation und der EU systematisch aufgebaut worden waren. Besonders ins Blickfeld gerieten Bosnien-Herzegowina und Rest-Jugoslawien. Aufgrund der liberalen Visapolitik dieser Länder konnten dort nicht nur ChinesInnen, sondern auch Flüchtlinge aus der Türkei und dem Iran problemlos ein- und weiterreisen.

Als Ergebnis von drei eilig einberufenen Konferenzen präsentierte schließlich Großbritannien im Januar 2001 einen ehrgeizigen Plan zur Bekämpfung dieser Flüchtlings- und Migrationsbewegung. Im Zentrum der Londoner Vorschläge steht der Aufbau eines Netzwerkes von Verbindungsbeamten der EU in der gesamten Balkan-Region.[10] Gruppen von jeweils acht bis zehn BeraterInnen sollen bis Mitte des Jahres zu den bosnischen und kroatischen Grenzpolizeien entsandt sein. Neben der Aus- und Fortbildung für den Einsatz zu Land und in der Luft besteht ihre Aufgabe in der Hilfe beim Aufbau einer nationalen „intelligence structure“.[11] Hierfür sollten enge Arbeitsbeziehungen zu den im ehemaligen Jugoslawien stationierten Streitkräften der EU und NATO, den UN-Missionen sowie zu den USA und Russland aufgebaut werden.

Die britischen Pläne wurden vom EU-Innen- und -Justizrat Ende Mai weitgehend gebilligt. ILOs sollen in die EU-Staaten Griechenland, Italien und Österreich, in einige Kandidatenländer (Slowenien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Slowakei), nach Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Jugoslawien und Mazedonien – aber auch in die Türkei und die Republik Moldau entsandt werden. Als weitere Standorte hatte Großbritannien Zypern und Syrien vorgeschlagen. In Kooperation mit Verbindungsbeamten aus Zoll und Militär sollen die ILOs aus Polizei und Einwanderungsbehörden folgende Aufgaben erfüllen:

  • Aufbau, Pflege und Ausbau enger Kontakte mit den Strafverfolgungsbehörden der Gastländer im Bereich der Schleuserkriminalität,
  • proaktive Erhebung sowohl strategischer als auch taktischer Informationen und Weitergabe dieser Daten an die nationalen Zentralstellen und ggf. an EUROPOL,
  • Versorgung der Strafverfolgungsbehörden der Gastländer mit einschlägigen Informationen und Unterstützung der Gastländer bei der Ausrichtung der operativen Arbeit gegen Schleuserbanden,
  • Beratung und Unterstützung des Gastlandes, besonders hinsichtlich der Kontrollen an Flughäfen, Landgrenzen und in Seehäfen.[12]

EU-Polizisten – internationale Krisenmanager?

Internationale Einsätze von PolizistInnen und die Arbeit der im ehemaligen Jugoslawien stationierten Armeeeinheiten aus den EU-Staaten sind für die EU-Polizeiminister kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Das Zusammenwirken von Polizei und Militär bei der Flüchtlingsabwehr auf dem Balkan wird ausdrücklich befürwortet. Seit dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999 hat es sich die EU nun auch zum Ziel gemacht, sowohl militärische als auch nichtmilitärische Verbände zum internationalen Konfliktmanagement aufzubauen. Bis 2003 sollen die Mitgliedstaaten in der Lage sein, freiwillig bis zu 5.000 PolizeibeamtInnen für internationale Missionen im Rahmen der Konfliktprävention und Krisenbewältigung bereitzustellen. Diese Planungen für EU-Missionen zur zivilen bzw. nichtmilitärischen Krisenbewältigung – der dritten Variante internationalisierter Polizeieinsätze – führt zu einer gefährlichen Parallelisierung polizeilichen und militärischen Handelns. Zwei Grundprobleme stellen sich hierbei.

Erstens: In welchem institutionellen und politischen Rahmen erfolgen diese Einsätze? Die EU gründete auf Gipfeltreffen im portugiesischen Feira (im Juni 2000) ein Komitee für zivile Aspekte eines Krisenmanagements, das sich um die Koordination der Polizeiarbeit, den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen vor Ort sowie um den Zivilschutz kümmert.[13] Grundsätzlich will die EU eigene Polizeiverbände nur bei Aktionen einsetzen, wie sie z.B. von der UNO bzw. der OSZE durchgeführt werden. Stets hat man sich aber die Option offengehalten, Operationen auch alleine anführen zu können.[14] Im Mai 2001 verabschiedete das genannte Komitee hierfür einen Aktionsplan.[15] Geplant sind demnach nun auch „EU-led police missions“.

Zweitens: Wie werden polizeiliche und militärische Belange voneinander abgegrenzt? Als Vorbilder solcher Missionen zum internationalen Konfliktmanagement werden meist Ost-Timor und insbesondere Bosnien und Kosovo angeführt. Für einige Teilnehmer eines Seminars über die Rolle der Polizei in internationalen Friedensmissionen Ende Mai 2000 in Cascais schien jedoch auch das Zusammenwirken von Polizei und Militär im nordirischen Bürgerkrieg ein Beispiel abzugeben.[16] Sowohl Nordirland als auch die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien zeigen eine regelrechte Verquickung zivil-polizeilicher und militärischer Aufgaben. Die Schnittstellen von Polizei und Militär bereitet die EU systematisch vor. Der genannte Polizeiliche Aktionsplan spricht sich dafür aus, bei solchen Missionen operative Kontaktstellen zwischen den zivilen und militärischen Einsatzstäben zu bilden. Auf dem Seminar in Cascais wurden neben dem Austausch von Verbindungsbeamten und dem Aufbau von Informationskanälen sogar gemeinsame Operationszentren gefordert.

Die Kooperation zwischen Polizei und Militär ist aber nicht nur als solche problematisch. Sie hat auch Auswirkungen auf die Transparenz innerhalb der EU. Zwischen den drei Institutionen der EU (Rat, Kommission und Europäisches Parlament (EP)) wurde erst kürzlich eine Transparenz-Verordnung (TVO) verabschiedet, die den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU regelt.[17] Art. 9 Nr. 3 der TVO legt fest: Sofern bei EU-Einsätzen des internationalen Konfliktmanagements eine Zusammenarbeit mit der NATO erfolgt – und dies wird regelmäßig der Fall sein – dann ist es der NATO als rechtlich eigenständiger Partei möglich, die Veröffentlichung bzw. die offizielle Registrierung der von ihr verfassten und von der EU als Ratsdokumente übernommenen Unterlagen zu verweigern. Die Öffentlichkeit wird also keinen Zugang zu diesen Dokumenten erhalten, ja sie wird noch nicht einmal etwas über ihre Existenz wissen – auch wenn es in den Dokumenten nicht um militärische Geheimnisse, sondern z.B. um polizeiliche Belange bei zivilen oder humanitären Einsätzen zur Konfliktbewältigung geht. Selbst den Europa-ParlamentarierInnen bleiben diese offiziellen Unterlagen verwehrt. Allein das Präsidium und ein vierköpfiges Vertrauensleute-Gremium des EP sollen Zugang erhalten.

Eine drohende Militarisierung der humanitären Hilfe und der Abbau von Bürgerrechten in der EU – das sind zwei bedenkliche Folgen dieses letzten Aspekts sich internationalisierender Einsätze von EU-Polizisten.

Mark Holzberger ist Referent für Flüchtlings- und Migrationspolitik in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Bundesministerium des Innern: Nachbericht zum Rat der Justiz- und Innenminister am 15./16. März 2001 in Brüssel, Berlin, 27. März 2001
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.10.2000
[3] Bundesministerium des Innern a.a.O. (Fn. 1)
[4] vgl. hierzu EU-Ratsdok.-Nr. 5406/01 v. 17.1.2001
[5] vgl. Holzberger, M.: Krokodilstränen um tote MigrantInnen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 66 (2/2000), S. 67-74
[6] EU-Ratsdok.-Nr. 10017/00 v. 4.7.2000
[7] EU-Ratsdok.-Nr. 13474/00 v. 30.11.2000
[8] EU-Ratsdok.-Nr. 14294/00 v. 14.12.2000
[9] 30 Flüchtlinge aus der Türkei bzw. dem Iran sollen 1999 bei drei Unfällen in kroatisch-bosnischen Grenzflüssen ertrunken sein, Frankfurter Rundschau v. 23.2.2001.
[10] Ratsdok.-Nr. 5496/01 v. 19.1.2001 und 6613/01 v. 26.2.2001
[11] Ende 1999 hatte die UN-Mission in Bosnien-Herzegowina „gegen den Willen der lokalen Politiker“ den Aufbau einer eigenen Grenzpolizei durchgesetzt: Ende 2000 kontrollierte der multi-ethnisch zusammengesetzte State Border Service gerade vier der 41 offiziellen Übergänge an der 1.616 Kilometer langen Grenze. Die EU will den Service aus Mitteln des Stabilitätspaktes für Südost-Europa fördern, Frankfurter Rundschau v. 23.2.2001.
[12] EU-Ratsdok-Nr. 8684/01 v. 10.5.2001
[13] EU-Ratsdok-Nr. 8515/1/00 v. 17.5.2000
[14] EU-Ratsdok-Nr. 8598/00 v. 17.5.2000
[15] EU-Ratsdok-Nr. 9726/01 v. 8.6.2001
[16] EU-Ratsdok-Nr. 9113/00 v. 9.6.2000
[17] Dok. PE-Cons 3625/01 v. 22.5.2001