Offene Grenzen – aber nur für die Polizei – Verrechtlichung grenzüberschreitender Polizei-Aktionen

von Heiner Busch

Sechs Jahre nachdem das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) für die ersten sieben Staaten in Kraft getreten ist, verhandeln die EU-Gremien über Nachbesserungen. Mehr als bisher schon sollen die Polizeibehörden über die Staatsgrenzen hinweg agieren dürfen. Bundesinnenministerium (BMI) und Innenministerkonferenz (IMK) orientieren sich dabei am deutsch-schweizerischen Polizeivertrag.

Ministerialdirigent a. D. Horst Eisel ist des Lobes voll. Von 1997 bis 1999 führte er die deutsche Delegation, die mit dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, dem schweizerischen Justizministerium, ein Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit aushandelte. Dieser deutsch-schweizerische Polizeivertrag wurde am 27. April 1999 in Bern unterzeichnet. „Man sprach“, so Eisel, „von einem Signal für eine fortschrittliche grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Partnerschaft, von einem Modell für Europa.“[1] Die beiden Kammern der schweizerischen Bundesversammlung haben dem Abkommen bereits zugestimmt, in Deutschland befindet es sich mitten im Ratifizierungsprozess: Der Innenausschuss hat seinen Segen gegeben, nach der Sommerpause ist das Plenum des Bundestages an der Reihe.

Eisel kann wirklich zufrieden sein, denn vom Blickwinkel der Polizei aus hat er eine Meisterleistung vollbracht. In keinem der Abkommen, die bisher im Kontext der EU ausgehandelt wurden, sind so viele und so weitgehende Befugnisse für grenzüberschreitendes polizeiliches Handeln fixiert wie in diesem Vertrag mit der Schweiz, die sich nach wie vor beharrlich gegen einen Beitritt zur Union sträubt. Dabei war es den Behörden der Alpeninsel eigentlich nur darum gegangen, auch ohne vorherigen EU-Beitritt an die Schengener Kooperation assoziiert zu werden, so wie das vorher bereits die Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island erreicht hatten. Der Schengener Exekutivausschuss hatte dieses rosinenpickerische Ansinnen zunächst 1995 und wiederholt 1998 abgelehnt – Gerüchten zufolge auf Druck Spaniens und Portugals, die nicht einsehen wollten, dass ihre StaatsbürgerInnen in der Schweiz nicht die volle Freizügigkeit genießen können. Den eidgenössischen Schengen-BefürworterInnen blieb damit nur der Weg einer Annäherung durch bilaterale Verträge mit den Nachbarstaaten, die allesamt der EU und Schengen angehören. Mit Deutschland (und auch mit Österreich) gelang es bei dieser Annäherung sogar, das Vorbild SDÜ zu überholen.

Nacheile und exekutive Befugnisse im Nachbarstaat

So geht der Polizeivertrag z.B. selbst über die Maximalvariante der Nacheile-Regelungen des SDÜ – Verzicht auf räumliche und zeitliche Beschränkungen sowie auf einen Deliktkatalog – hinaus. Wenn sie eine Person auf dem Territorium des Nachbarstaates weiterverfolgen, haben die PolizeibeamtInnen nach dem deutsch-schweizerischen Abkommen ein Festhalte- und ein Durchsuchungsrecht, und sie dürfen die Person selbst auf die nächste Polizeistation bringen.

Wie in den meisten Zusatzabkommen zwischen den Schengenstaaten werden auch hier grenzpolizeiliche Kontaktstellen eingerichtet. Möglich ist aber nicht nur die Entsendung von beratend tätigen VerbindnungsbeamtInnen, sondern auch der Einsatz von PolizistInnen der anderen Seite mit exekutiven Befugnissen „bei Vorliegen dringender Bedürfnisse … zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie zur Bekämpfung von Straftaten“ (Art. 22).

Observation und verdeckte Ermittlungen

Das SDÜ war der Einstieg in die Verrechtlichung grenzüberschreitender verdeckter Ermittlungsmethoden. Der deutsch-schweizerische Polizeivertrag regelt nicht nur mehr Methoden als das SDÜ, sondern lässt diese erstmals für präventivpolizeiliche Zwecke zu.

So erlaubt Art. 40 SDÜ die grenzüberschreitende Observation nur im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens – im Normalfall wegen einer auslieferungsfähigen Straftat – und auch nur gegen die verdächtige Person. Im Eilfall gilt ein engerer Katalog schwerer (oder zumindest als schwer angesehener) Straftaten. Für die Observation auf dem Territorium des anderen Staates bedarf es eines Rechtshilfeersuchens entweder an die polizeiliche Zentralstelle (in Deutschland das Bundeskriminalamt) oder an die zentrale Staatsanwaltschaft (z.B. in den Niederlanden). Im Eilfall muss dieses Ersuchen nachgereicht werden. Im deutsch-schweizerischen Polizeivertrag sind dagegen sowohl die Zwecke solcher Einsätze erweitert als auch das Verfahren vereinfacht worden. Observiert werden können sowohl Verdächtige einer auslieferungsfähigen Straftat als auch deren Kontaktpersonen. Möglich ist die Überwachung auch zur „Sicherstellung der Strafvollstreckung“ – in diesem Falle betrifft sie immer Kontaktpersonen, entflohene Gefangene würden festgenommen und nicht observiert – sowie zur „Verhinderung“ von erheblichen Straftaten. Offen ist dabei nicht nur, wann eine Straftat erheblich ist, sondern auch, ob die zu verhindernde Tat unmittelbar bevorstehen muss, d.h. ob die Observation der Abwehr einer konkreten Gefahr oder der „vorbeugenden Bekämpfung“ dienen soll.

Die Ersuchen sind auch nicht an die Zentralstellen zu richten, sondern an die Staatsanwaltschaften bzw. die Polizeien der angrenzenden Kantone bzw. Länder (Landeskriminalämter/Polizeikommandos). Anders als das SDÜ erlaubt der deutsch-schweizerische Vertrag den ObservantInnen ausdrücklich das Betreten öffentlich zugänglicher „Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume“ sowie den Einsatz audiovisueller Mittel.

Das SDÜ sieht nur Kontrollierte Lieferungen von illegalen Drogen vor. Das deutsch-schweizerische Abkommen erlaubt diese verdeckte Ermittlungsmethode dagegen auch für Waffen und Sprengstoffe, Falschgeld, Diebesgut und Hehlerware sowie damit im Zusammenhang stehende Geldwäsche. Die Regelungen entsprechen damit im Wesentlichen denen des noch nicht in Kraft getretenen EU-Übereinkommens über die Zollamtshilfe („Neapel II“) von 1997. Das EU-Rechtshilfeübereinkommen, das erst 15 Monate nach dem deutsch-schweizerischen Vertrag unterzeichnet wurde, lässt die Kontrollierte Lieferung bei allen auslieferungsfähigen Straftaten zu.

Der Einsatz verdeckter Ermittler (VE) war im SDÜ gar nicht geregelt und wird auch im EU-Rechtshilfeübereinkommen nur für „strafrechtliche Ermittlungen“ erlaubt. Nach Art. 17 und 18 des Polizeivertrages mit der Eidgenossenschaft sollen diese Einsätze nun sowohl im Bereich der Strafverfolgung möglich sein – und zwar wenn „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ für eine rechtshilfefähige Straftat „mit erheblicher Bedeutung“ vorliegen – als auch für präventive Zwecke (der Verhinderung von „erheblichen“ auslieferungsfähigen Straftaten). In diesen präventiven Fällen entscheidet die Polizei – in Deutschland das BKA oder ein LKA – alleine über ein entsprechendes Ersuchen. VE-Einsätze sind auch im Wege der „Organleihe“ erlaubt: So kann die Schweiz für eigene Ermittlungen einen VE aus Deutschland mit entsprechender Legende und Qualifikation bestellen, selbst wenn das Verfahren keinen Bezug zum Nachbarland hat.

Modell für die EU

Die Klage der deutschen Polizeibehörden, dass insbesondere die Nacheile- und Observationsregelungen des SDÜ nicht weit genug gingen und sehr umständlich seien, findet sich in nahezu allen „Erfahrungsberichten“, die das BMI und die IMK seit dem Inkrafttreten des Abkommens herausgegeben haben.[2] Am 22. April 1999, neun Tage bevor der Amsterdamer Vertrag in Kraft trat und die eigenständige Schengen-Kooperation in die EU-Gremien integriert wurde, unterbreitete die deutsche Schengen-Präsidentschaft ihren Partnern noch eine letzte „Note“.[3] Dieses Abschiedsgeschenk enthält eine Wunschliste von möglichen Änderungen des SDÜ, die man zwar im Rahmen von Schengen jetzt nicht mehr vornehmen könne, die das BMI aber zur Weiterbearbeitung durch die entsprechenden Ratsgremien anempfahl. Das war fünf Tage, bevor der deutsch-schweizerische – und der österreichisch-schweizerische – Polizeivertrag im Erlacher Hof zu Bern unterzeichnet wurden. Bei der Pressekonferenz unterstrich BMI Otto Schily erst recht den Modellcharakter der mit der Schweiz erzielten Ergebnisse. Sein damaliger österreichischer Kollege Karl Schlögel kündigte an, die beiden EU-Staaten würden binnen kurzer Frist ein vergleichbares Abkommen schließen.

Am 15. März 2000 „begrüßte“ auch die IMK, „dass der Bundesminister des Innern mit Nachbarstaaten Verhandlungen aufgenommen hat, um mit dem deutsch-schweizerischen Polizeivertrag vergleichbare Regelungen zu erreichen. Die Innenministerkonferenz hält den Abschluss von Verträgen mit der Republik Österreich, der Tschechischen Republik, Polen und Dänemark für dringlich. Bereits vorhandene Verträge mit anderen Nachbarstaaten sollten im Lichte der bereits gewonnenen Erfahrungen überprüft werden.“[4] Der deutsch-tschechische Vertrag „über die Zusammenarbeit der Polizei- und der Grenzschutzbehörden in den Grenzgebieten“ vom 19. September 2000 enthält zwar großzügige Regelungen über Nacheile, gemeinsam besetzte Dienststellen, gemeinsame Streifen sowie die Beteiligung an Einsätzen auf dem Territorium des Nachbarstaates; die verdeckten Methoden bleiben hingegen ausgespart. Mit Österreich ist bisher kein Vertrag zustande gekommen, weil sich u.a. die Frage stellt, ob es nach dem Amsterdamer Vertrag möglich ist, eine weitergehende Kooperation zwischen nur zwei EU-Staaten zu vereinbaren, oder ob nicht vielmehr der Art. 43 Abs. 1 EU-Vertrag mindestens eine Mitarbeit der Hälfte der Mitgliedstaaten erzwingt.[5]

Auf EU-Ebene hat die französische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2000 die deutsche Schengen-Note von April 1999 wieder aufgegriffen. Die Arbeitsgruppe „polizeiliche Zusammenarbeit“ des Rates diskutiert derzeit eine Änderung des Art. 40 SDÜ. Die Delegationen sind sich halbwegs über Revisionen der Absätze 1 und 7 einig. Observiert werden könnten künftig auch Kontaktpersonen, der Deliktkatalog für Eilfälle dürfte u.a. um Geldwäsche, „Schleuserkriminalität“, Delikte von kriminellen Organisationen sowie Nuklearschmuggel erweitert werden.[6]

Glaubt man Eisel, so scheitern die weitergehenden deutschen Vorstellungen bisher an überkommenem Souveränitätsdenken. Die Erfahrungen mit der EU und Schengen im Laufe des vergangenen Jahrzehnts müssten ihn beruhigen. Mit griffigen Bedrohungsbildern und Argumenten angeblicher polizeilicher Effizienz lassen sich die Regierungen der EU-Staaten über kurz oder lang zum „Umdenken“ bewegen.

Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Eisel, H.: Der deutsch-schweizerische Polizeivertrag. Ein Vertragswerk, das ein Modell für Europa sein könnte, in: Kriminalistik 2000, H. 11, S. 706-710 (706)
[2] beispielhaft, Bundesministerium des Innern: Schengen-Erfahrungsbericht 1996, durch die IMK mit Beschluss vom 5./6.6.1997 zustimmend zur Kenntnis genommen, o.O. 1997, S. 7f.
[3] Sch/I (99) 20 rev. 2
[4] Beschlussniederschrift der 160. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder am 15. März 2000 in Düsseldorf
[5] Eisel a.a.O. (Fn. 1), S. 709
[6] Stellungnahmen der niederländischen, deutschen und französischen Delegation: Ratsdok. 5748/01 v. 31.1.2001, 5846/01 v. 2.2.2001, 6315/01 v. 16.2.2001