von Heike Kleffner
Auch die nach der NSU-Selbstenttarnung begonnene Überprüfung von „Altfällen“ bringt keine Annäherung zwischen der offiziellen Anerkennungspraxis und den journalistischen Recherchen.
Ein 55-jähriger Mann aus Ruanda, der am 23. Oktober 2014 in einer Unterkunft für Wohnungslose in Limburg (Hessen) getötet wurde, könnte nach derzeitigem Stand das vorerst letzte Todesopfer rassistisch und rechts motivierter Gewalt in Deutschland sein. Er wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft Limburg von mindestens drei Männern im Alter von 22 bis 43 Jahren mit Tritten und Schlägen tödlich misshandelt. Die beiden älteren Tatverdächtigen hatten ebenfalls in der Unterkunft gewohnt, der 22-Jährige lebte in der Nachbarschaft. Laut Staatsanwaltschaft gebe es „ganz konkrete Hinweise“ auf eine „fremdenfeindliche“ Gesinnung der mutmaßlichen Täter. Beispielsweise ein Handy, auf dem sich ein Foto befindet, das zwei der Tatverdächtigen mit dem sogenannten Hitlergruß zeigt. Mittlerweile hat sich einer der drei Festgenommenen in der Untersuchungshaft das Leben genommen.[1]
Ob der in den Medien noch immer namenlose Mann aus Ruanda im kommenden Jahr in den Statistiken des Bundesinnenministeriums und des Bundeskriminalamtes als Todesopfer rassistischer beziehungsweise rechts motivierter Gewalt anerkannt wird, ist völlig ungewiss – und hängt keinesfalls vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die mutmaßlichen Täter ab. Entscheidend sind vielmehr politische Vorgaben und Zufälle, die das bundesweit einheitliche Erfassungssystem für Politisch Motivierte Kriminalität Rechts (PMK-rechts) ad absurdum führen. Dieses System war das Ergebnis einer Reform aus dem Jahre 2001, mit dem die bis dahin geltende Staatsschutz-orientierte Registrierung einer breiteren Erfassung auch der Tatmotivation und der jeweiligen Opfergruppen weichen sollte. Seitdem gilt eine Tat dann als politisch rechts motiviert,
„wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung der Täter darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status‘ richtet.“[2]
Mit jedem Jahr wächst die Zahl der Tötungsdelikte, die von der Bundesregierung nicht offiziell als politisch rechts und rassistisch motiviert anerkannt werden. Im September 2000 hatten die Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel erstmals die Chronologie „Den Opfern einen Namen geben: Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ veröffentlicht. Demnach sind zwischen 1990 und 2000 mindestens 93 Menschen in Folge von rassistisch, antisemitisch und rechts motivierten Angriffen und Brandanschlägen zu Tode gekommen. Die Bundesregierung sprach damals für den gleichen Zeitraum von lediglich 24 Opfern rechter Gewalt.[3] Die Diskrepanz zwischen den Recherchen von JournalistInnen und Initiativen einerseits und den offiziellen Zahlen andererseits ist seither unverändert.
Noch immer erkennt die Bundesregierung nur ein Drittel aller Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt seit 1990 an. Nach ihrer letzten Zählung hat es zwischen dem 1. Januar 1990 und dem 31. Oktober 2014 in Deutschland insgesamt 64 Todesopfer rechter Gewalt gegeben.[4] Demgegenüber geht das Rechercheprojekt „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ von Tagesspiegel und ZEIT online von mindestens 152 Todesopfern bis Ende 2012 aus.[5] In 18 weiteren Fällen sehen die AutorInnen Verdachtsmomente für eine rechte oder rassistische Motivation. Antifaschistische Initiativen und die Antonio-Amadeu-Stiftung gehen für den gleichen Zeitraum sogar von 182 Todesopfern aus.[6]
Überprüfung von „Altfällen“
Als Reaktion auf die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 und dessen Mordserie an neun Kleinunternehmern türkischer beziehungsweise griechischer Herkunft sowie der Polizistin Michèle Kiesewetter in den Jahren 2000 bis 2007 hatte die Innenministerkonferenz (IMK) im Frühjahr 2012 eine „Überprüfung von Altfällen, die mit dem NSU vergleichbare Tatmodalitäten oder mögliche Bezüge zur politisch motivierten Kriminalität -rechts- aufweisen“ beschlossen.[7] Neu bewertet werden sollten sowohl die 152 Tötungsdelikte der Recherchen von Tagesspiegel und ZEIT online als auch rund 3.300 ungeklärte, vollendete und versuchte Tötungsdelikte aus den Jahren 1990 bis 2011 mit möglichem rechten Hintergrund, bei denen bislang keine TäterInnen ermittelt beziehungsweise verurteilt wurden. Im Januar 2014 teilte die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion mit, dass die „Arbeitsgruppe Fallanalyse“ beim Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) eine Auswahl von 745 Fällen getroffen habe, die nun von jeweiligen Landeskriminalämtern und der Arbeitsgruppe bearbeitet würden.[8]
Im Sommer 2014 zeichnete sich ab, dass die Überprüfung in den Ländern sehr unterschiedlich verläuft beziehungsweise verlaufen ist. Während in Nordrhein-Westfalen 135, in Berlin 69 und in Baden-Württemberg insgesamt 202 Fälle unter Anforderung von Akten (der Polizei und der Staatsanwaltschaft) geprüft wurden, waren es in Bayern lediglich 40 Fälle, in Niedersachsen gerade einmal vier und in Thüringen und Sachsen lediglich zwei.[9] Bedenklich sind jedoch nicht nur die unterschiedlichen Zahlen der jeweils genauer untersuchten Fälle.
Als symptomatisch für die Überprüfungspraxis der Länder muss das Ergebnis aus Baden-Württemberg gelten, es habe in dem Bundesland „keine Hinweise auf eine bislang nicht erkannte rechtsgerichtete Tatmotivation gegeben“.[10] Die Praxis der Anerkennung beziehungsweise Verweigerung lässt sich hier gut nachvollziehen, da sich unter den überprüften Fällen auch fünf Tötungsdelikte aus der Recherche von Tagesspiegel und ZEIT online befinden.[11] Weiterhin nicht als Opfer rechter Gewalt werten will Baden-Württemberg beispielsweise drei jugendliche Spätaussiedler – Viktor Filimonov (15), Waldemar Ickert (16) und Aleksander Schleicher (17) –, die am 19. Dezember 2003 von einem 17-jährigen Naziskin in Heidenheim mit gezielten Messerstichen ins Herz getötet wurden. Das Landgericht Ellwangen verurteilte den 17-Jährigen im Juli 2004 zu neun Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags. Die Tat sei nicht rassistisch motiviert, aber ohne den ausländerfeindlichen Hintergrund des Angeklagten nicht erklärbar, hatte die Kammer damals entschieden. Die Staatsanwaltschaft dagegen sprach gegenüber Tagesspiegel und ZEIT online im Februar 2011 noch immer von einem „Kapitalverbrechen mit rechtsextremem Hintergrund“.[12] Auch der 20-jährige Tim Maier wird weiterhin nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Er war am 26. November 2005 in Bad Buchau von einem 24-jährigen Neonazi erstochen worden. Tim Maier hatte mit vier Freunden, darunter ein Jugendlicher türkischer Herkunft, ein Lokal verlassen. Die Gruppe wurde von dem ehemaligen NPD-Mitglied Achim M. und einem weiteren Neonazi verfolgt und als „Scheiß Ausländer“ beschimpft. Bei einer anschließenden Rangelei stieß Achim M. dem 20-Jährigen ein Messer in den Bauch. In der Wohnung des Täters fand die Polizei Hakenkreuzfahnen, Landser-Hefte und eine Pistole. Achim M. wurde 2006 wegen Totschlags zu zehn Jahren Haft verurteilt. Laut Gericht konnte ein rechtsextremer Hintergrund nicht geleugnet werden, in den Parolen habe sich „dumpfe Ausländerfeindlichkeit“ ausgedrückt. Legt man die PMK-rechts Kriterien – die explizit die Opferauswahl berücksichtigen – zugrunde, wäre zu erwarten gewesen, dass beide Fälle nun retroaktiv als PMK-rechts-Tötungsdelikte anerkannt würden. Doch stattdessen lautet das Ergebnis der Überprüfung durch die AG Fallanalyse, es gäbe „keine Hinweise auf eine bislang nicht erkannte rechtsgerichtete Tatmotivation“. [13]
Auch der Freistaat Sachsen weigert sich hartnäckig, Fälle nachträglich anzuerkennen, die nach der PMK-rechts-Definition sowohl hinsichtlich der Opferkriterien als auch der im Prozess offensichtlich gewordenen Tatmotivation eindeutig politisch rechts motiviert sind. So wie beispielsweise im Fall des 59-jährigen Karl-Heinz Teichmann, der am 7. August 2008 in Leipzig durch einen 18-jährigen Neonazi, der auf dem Rückweg von einer Kundgebung Freier Kameradschaften auf den schlafenden Obdachlosen stieß, brutal misshandelt und dann getötet wurde. Die Jugendkammer des Landgerichts Leipzig verurteilte den 18-jährigen Michael H. im Jahr 2009 zwar wegen heimtückischen Mordes zu einer Jugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten. „Aus seiner schlechten Laune heraus störte ihn der Anblick des schlafenden Mannes, dessen Schlafplatz er willkürlich als unpassend bewertete“, heißt es allerdings im Urteil. Ein rechtsextremes Motiv sah die Kammer nicht. Sein Mörder habe den Mann „zum bloßen Objekt degradiert“, erklärte dagegen der Staatsanwalt. Der Verteidiger des Täters sagte in einem Interview mit dem MDR-Magazin Exakt im April 2009: „Das kann man nicht wegdiskutieren, eine Tat mit rechtem Hintergrund. Natürlich.“[14] Der Freistaat Sachsen hatte 2012 – wie zuvor schon Sachsen-Anhalt – nach einer Überprüfung der von Tagesspiegel und ZEIT online recherchierten Fälle zwei Tötungsdelikte mit rechtem beziehungsweise rassistischem Hintergrund aus den Jahren 1998 und 1999 anerkannt – nach mehr als 14 bzw. 13 Jahren. Man habe erst jetzt die Urteile zur Kenntnis genommen, lautete die Erklärung der Landesregierung.[15] Dies gilt auch für den neonazistischen Mord an dem 16-jährigen Thomas K. am 4. Oktober 2003 in Leipzig. Seit November 2014 wird Thomas K. durch das sächsische Innenministerium offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Auch in diesem Fall habe die Polizei „das Urteil nicht gekannt”.[16] Offensichtlich will man im Freistaat keine weiteren Wahrnehmungsdefizite mehr zugeben.
Wenig Hoffnung trotz neuer Recherchen
Bereits im Sommer 2014 hätte die Innenministerkonferenz einen Bericht über den Stand der Überprüfung der so genannten Altfälle erhalten sollen. Bis Ende Dezember 2014 will das Bundesinnenministerium nun ein abschließendes Ergebnis vorlegen. Die Zwischenergebnisse, die sich in den Antworten auf die Kleinen Anfragen im Bundestag andeuten, machen jedoch nur wenig Hoffnung, dass die Bundesregierung 25 Jahre nach Beginn der ersten Welle rassistischen und rechten Straßenterrors im wiedervereinigten Deutschland, die tatsächliche Dimension tödlicher rechter und rassistischer Gewalt nun endlich anerkennen will.
Dies ist umso erschreckender, als neue Recherche- und Prüfprojekte von antifaschistischen Initiativen, Zivilgesellschaft und WissenschaftlerInnen deutlich machen, wie groß das Dunkelfeld weiterer – bislang unbekannter – Tötungsdelikte mit rechtem und rassistischen Hintergrund, insbesondere aus den frühen 1990er Jahren, noch immer ist. Im Frühjahr 2015 wird das Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) aus Potsdam – im Auftrag des Brandenburgischen Innenministeriums – eine Studie zu den Brandenburger Todesopfern vorlegen.[17] Das MMZ prüft derzeit 33 potenzielle PMK-rechts-Tötungsdelikte, von denen bislang lediglich neun anerkannt sind. Schon im November 2014 stellte der „Initiativkreis Antirassismus“ in Leipzig das Ergebnis seiner Recherchen in der Ausstellung „Die verschwiegenen Toten“ im Alten Rathaus in Leipzig vor. Allein in Leipzig und Umland muss demnach von zehn Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 ausgegangen werden. Bisher hatten Initiativen und JournalistInnen lediglich sechs Fälle recherchiert – staatlich anerkannt sind lediglich drei.[18]