Die Polizei in der Flüchtlingsaufnahme: Verschwimmende Aufgaben

Als im Sommer 2015 die Zahl der ankommenden Geflüchteten stieg, übernahm die Polizei zahlreiche Aufgaben der Asyl- und Sozialbehörden. PolizistIn­nen halfen, Geflüchtete zu registrieren, unterzubringen und zu versorgen – an der Grenze, an Bahnhöfen, in den Ländern und Kommunen. Die Polizei mit ihrer eigenen Logik, Organisationsweise und ihren Arbeitsstrukturen prägt seither auch die Flüchtlingsaufnahme.

In der Sommerausgabe 2016 des Mitarbeitermagazins der Bundespolizei (BPol) konnten sich die BeamtInnen über ihre persönlichen „Beschwerden …, familiären Probleme, Ängste und die Frage nach dem Sinn des einen oder anderen Einsatzes … im Migrationseinsatz“ äußern. Viele klagten über ihre starke Belastung infolge der Fluchtmigration. Die Beiträge erwecken teilweise den Eindruck, viele PolizistInnen hätten im Sommer 2015 lieber so schnell wie möglich die Grenze zu Österreich geschlossen, statt Geflüchteten das Gepäck zum Bus zu tragen und dabei zu helfen, ihre Verteilung in das Bundesgebiet zu organisieren. Aber die starke Rolle der Polizei in der Flüchtlingsaufnahme war politisch gewollt.[1]

Grenzsicherung, Registrierung von illegalen Grenzübertritten, Schutz von Flüchtlingsheimen und Abschiebungen – das sind die Aufgaben, die die Polizei gewöhnlich im Bereich Flucht und Migration wahrnimmt. Asylsuchende zu registrieren und zu versorgen, ist nicht ihre, sondern die Aufgabe der Asyl- und Sozialbehörden. Die Polizei leitet Asylsuchende normalerweise an die Aufnahmeeinrichtungen in den Ländern weiter, wo sie ihr Asylbegehren vorbringen und nach einer festgelegten Quote, dem Königsteiner Schlüssel, auf die Länder verteilt werden. Erst später stellten sie ihren eigentlichen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Neue Aufgaben für die Bundespolizei

Doch im Sommer 2015 verschwamm diese Rollenverteilung zwischen den staatlichen Akteuren. Die Polizeien aus Bund und Ländern übernahmen immer mehr die Aufgabe der Asyl- und Sozialbehörden. Im Falle der BPol ist dies besonders deutlich: Ihre eigentliche Aufgabe ist die Grenzüberwachung und -kontrolle. Doch die Grenzkontrolle und Registrierung illegaler Grenzübertritte vermischte sich mit der Registrierung von Asylsuchenden, der Suche nach neuen Unterkünften und der Verteilung von Asylsuchenden auf die Länder. Zentrale Schauplätze waren die bayerischen Grenzorte Rosenheim und Deggendorf, in denen immer mehr Geflüchtete mit Zügen über Österreich ankamen. Weil die BeamtInnen mit der Versorgung und Registrierung der Asylsuchenden vor der Weiterreise schnell ausgelastet waren, richtete die BPol im August 2015 „Bearbeitungsstraßen“ ein. Dort durchlaufen die ankommenden Asylsuchenden verschiedene Stationen, an denen sie namentlich registriert, fotografiert und medizinisch untersucht werden. Sie müssen Fingerabdrücke abgeben; die Daten durchlaufen anschließend die polizeilichen Datenbanken. Ist der Abgleich negativ, werden die Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtung in den Ländern gebracht. Dies alles geschieht seitdem in Zuständigkeit der BPol. Sie koordinierte nun selbst die Verteilung auf die Länder.

Seit dem 13. September 2015 führt die BPol zudem wieder Grenzkontrollen an den deutschen Schengen-Binnengrenzen durch – insbesondere der zu Österreich. Seitdem nehmen die Zurückweisungen stark zu. Im ersten Halbjahr 2016 gab es bereits 13.324 Fälle – 8.913 waren es im gesamten Jahr 2015 gewesen.[2] Dabei handelt es sich um „Fälle“, in denen es gar nicht erst zum Asylantrag gekommen ist. Für die Betroffenen bedeutet dies eine massive Einschränkung ihres Rechts auf Asyl. Die BPol entscheidet damit faktisch darüber, welche Geflüchteten in Deutschland noch einen Asylantrag stellen können – und welche nicht.

Aushilfe für das Berliner LAGeSo

Auch in den Ländern verschwamm die Aufgabenverteilung zwischen Polizei sowie Asyl- und Sozialbehörden. Bei einer unerlaubten Einreise haben Geflüchtete die Pflicht, bei der Aufnahmeeinrichtung, Ausländerbehörde oder Polizei ihr Asylbegehren vorzubringen. Üblicherweise gehen sie zu einer Aufnahmestelle. Denn nur die Sozialbehörden bieten auch Unterkunft und Versorgung. Doch weil die Berliner Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) nur eingeschränkt geöffnet hatte und zudem völlig überlastet war, machten immer mehr Geflüchtete von der Möglichkeit Gebrauch, ihr Asylbegehren bei einer Polizeidienststelle vorzubringen.[3] 2011 gab es gerade einmal 207 Asylgesuche bei der Berliner Polizei, 2015 waren es 1.214 und allein in den ersten drei Quartalen 2016 schon 1.617.[4]

Die Polizei erfasste dann die Personaldaten, machte eine Fahndungsabfrage in INPOL und leitete darüber hinaus gegen die Asylsuchenden ein Strafverfahren wegen unerlaubter Einreise (ohne Pass bzw. Visum) oder illegalen Aufenthalts ein, obwohl Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention eigentlich nicht wegen unerlaubter Einreise strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Für das Strafverfahren wurden sie nun erkennungsdienstlich behandelt. Die Polizei fuhr sie zur Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm, wo Lichtbilder und Fingerabdrücke aufgenommen werden – und zurück zur Wache. Auch wenn die Staatsanwaltschaft diese Verfahren später fast ausnahmslos einstellte, so banden sie doch erhebliche Kapazitäten bei der Polizei.

Daher richtete der Berliner Senat auf Vorschlag der Polizei ab Mitte September eine zentral koordinierte Registrierungsstelle in der Kruppstraße 15 ein, einem Gebäude, das bis in das Jahr 2000 hinein als Abschiebeknast genutzt worden war und bis heute so aussieht. Das Außenschild „Abschiebungsgewahrsam“ wurde erst nach einigen Betriebstagen notdürftig mit Klebeband überdeckt. Obwohl es sich offiziell um eine LAGeSo-Außendienststelle handelt, in der die Polizei die Sozialbehörde bei der Registrierung unterstützt, hat in Wirklichkeit die Polizei hier den Hut auf, leitet den Standort und koordiniert die Abläufe. Dabei kann sie auf ihre Routine und die vorhandene Ausstattung zur „polizeilichen Bearbeitung“ größerer Menschenmengen zurückgreifen. Denn in den letzten Jahren nutzte sie das Gebäude bei polizeiliche „Großlagen“ wie dem 1. Mai als Gefangenensammelstelle für mutmaßliche Straftäter­Innen und deren erkennungsdienstliche Behandlung. Darüber hinaus veranstaltete sie dort mehrmals jährlich sogenannte Botschaftsvorführungen, bei denen die – mutmaßlich vietnamesische – Herkunft ausreisepflichtiger AusländerInnen per Befragung „festgestellt“ und die für eine Abschiebung benötigten Reisedokumente ausgestellt wurden.[5]

Doch nicht nur bei der Registrierung half die Berliner Polizei, sondern auch bei der Bereitstellung von Unterkünften und der Versorgung. Offiziell leistete sie lediglich Amtshilfe auf Anforderung für die eigentlich Zuständigen oder unterstützt andere Behörden beim „Flüchtlingsmanagement“. Im August 2015 richtete der Berliner Senat den Landesweiten Koordinierungsstab Flüchtlingsmanagement (LKF) ein, der das völlig überforderte LAGeSo dabei unterstützen sollte, die neuankommenden Geflüchteten zu registrieren, unterzubringen und zu versorgen.[6] Der Senat ernannte Dieter Glietsch zum Staatssekretär für Flüchtlingsfragen und betraute ihn mit der Leitung des LKF. Als ehemaliger Polizeipräsident Berlins, der seit 2011 im Ruhestand weilte, galt er als jemand, der anpacken und schnell entscheiden konnte – im Gegensatz zu Sozialsenator Mario Czaja (CDU), der sich in der Flüchtlingsfrage als entscheidungsunfähige Fehlbesetzung herausstelle.[7] Der 68-jährige Glietsch versammelte viele MitarbeiterInnen der Polizei um sich. 66 VollzugsbeamtInnen und 20 VerwaltungsmitarbeiterInnen der Polizei meldeten sich freiwillig zur Unterstützung des LKF. Im März 2016 waren noch 52 VollzugsbeamtInnen und 16 BeamtInnen aus der Polizeiverwaltung zum LKF abgeordnet.[8] Die MitarbeiterInnen der Berliner Verwaltung sind nicht darin geübt, in Stabsstrukturen zu arbeiten und „Großlagen“ zu bewältigen, die Polizei hingegen schon.

Als der Senat im September 2015 beschloss, die Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof als Massenunterkunft für Geflüchtete zu nutzen, betraute er mit diesem Projekt Klaus Keese, einen weiteren Polizeiführer im Ruhestand. Keese war zuletzt Leiter der Berliner Polizeidirektion 1 (Reinickendorf und Pankow). Er besetzte sein Projektbüro mit acht MitarbeiterInnen aus dem Polizeiapparat – aus dem Vollzug und der Verwaltung.[9]

Diese zahlreichen PolizistInnen übertrugen die Arbeitsstrukturen und Organisationsformen aus dem Polizeialltag auf das Flüchtlingsmanagement. Für die Ertüchtigung und den Ausbau des ehemaligen Flughafens organisierten sie sich als „Besondere Aufbauorganisation (BAO) Tempelhof“. Eine BAO ist eine zeitlich begrenzte Organisationsform für umfangreiche und komplexe Aufgaben, insbesondere Maßnahmen aus besonderen Anlässen, die im Rahmen der Allgemeinen Aufbauorganisation (AAO) nicht bewältigt werden können. Definiert ist die BAO in der Polizeidienstvorschrift (PDV) 100. Die Berliner Verwaltung richtet normalerweise Projektgruppen ein.

Die polizeiliche Logik veränderte auch die Art und Weise der Unterbringung der Geflüchteten. Der polizeiliche Hang zu „Großlösungen“ dominierte die Arbeit im LKF. Prekäre Massennotunterkünfte in Flugzeughangars, Fabrikhallen, Kaufhäusern und Turnhallen galten nun als ideale Lösung, um schnell zusätzliche Plätze bereit zu stellen. Die Standards der Unterkünfte spielten in den Folgemonaten keine Rolle mehr.

Die Polizei als Gewinnerin der Flüchtlingszuwanderung

Die Einbindung der Polizei in die „Bewältigung“ der Fluchtmigration nimmt kein Ende. Das alltägliche Klagelied der Polizei und ihrer Gewerkschaften über die starke Belastung führt für die Bundes- und Länderpolizeien zu einem ordentlichen Mittelzuwachs und einer Ausweitung der Befugnisse. Die Bundespolizei hat allein im Rahmen des „Asylpakets 1“ 67,6 Millionen Euro zusätzlich für die „Bearbeitungsstraßen“ und Grenzkontrollen erhalten (28,9 Millionen für Abordnungen, 11,9 Millionen für Geräte, Fahrzeuge und Verpflegung, 26,8 Millionen Führungs- und Einsatzmittel). Der im Rahmen des „Integrationsgesetzes“ neu eingeführte § 24 Absatz 1a des Asylgesetzes erlaubt es nun auch, die Anhörungen im Asylverfahren von Bundes- oder LandespolizistInnen durchführen zu lassen – womit die Polizei dann auch mitten im Asylverfahren angekommen ist.

[1]    vgl. Köglmeier, C.: An der Grenze. Schmerzgrenze?, in: Bundespolizei kompakt 2016, H. 3, S. 7-13
[2]    ZEIT online v. 10.8.2016: „Hat da jemand „Asyl“ gesagt?“
[3]    Tagesspiegel v. 13.9.2016: „Asylantrag bei der Polizei“; GdP Berlin: Die Folgen von politischem Missmanagement bei der Aufnahme von Flüchtlingen gehen zu Lasten der Polizei, September 2016
[4]    Abgeordnetenhaus Berlin (AGH) Drs. 17/17040
[5]    AGH-Drs. 17/16412
[6]    AGH-Drs. 17/17452; Senat von Berlin: Pressemitteilung v. 11.8.2015, AGH-Drs. 17/17453
[7]    Berliner Zeitung v. 26.5.2011: „Der Mann mit den zwei Gesichtern“
[8]    Berliner Zeitung v. 19.3.2016: „Fahnder werden zur Flüchtlingshilfe abgestellt“
[9]    BZ v. 4.9.2015: „Flughafen Tempelhof: Klaus Keese leitet Unterkunft für Flüchtlinge“

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