Die EU verzahnt ihre Strukturen der inneren und äußeren Sicherheit. Der Kampf gegen Terrorismus und Schleuser soll den Datenaustausch zwischen Militär und Strafverfolgung rechtfertigen.
Am 22. März 2017 trafen sich die AußenministerInnen der Anti-ISIS-Koalition in Washington: Die US-geführte „globale Koalition“, der fast alle EU-Mitgliedstaaten sowie die EU selbst angehören, feierte nicht nur die militärischen Erfolge gegen den „Islamischen Staat“. Nebenbei vereinbarte man den Austausch von Informationen und Beweismitteln aus Kampfgebieten („battlefield information and evidence“) zwischen Militärs und Strafverfolgungsbehörden. Dabei geht es unter anderem um Informationen, die in Syrien oder dem Irak bei „ausländischen Kämpfern“ sichergestellt werden. In der Abschlusserklärung ermutigten die MinisterInnen die beteiligten Staaten und Organisationen, „kollektive Strafverfolgungskanäle wie Interpol und Europol“ zu nutzen.[1]
Der Informationsaustausch funktioniert aber auch in der anderen Richtung – von den EU-Agenturen Frontex oder Europol zu den Militärs der Koalition: Beide Agenturen sind in den „Hot Spots“ in Griechenland und Italien präsent, Europol ist dort zuständig für die „Sicherheitsüberprüfung“ von Geflüchteten. Bei deren Befragung oder bei der Auswertung beschlagnahmter Kommunikationsmittel können auch die MitarbeiterInnen der Agenturen oder vor Ort zuständigen Mitgliedstaaten in den Besitz von Informationen aus Konfliktgebieten – von Aussagen der Geflüchteten bis hin zu Fotos, Textnachrichten, Dateien oder Dokumenten – kommen, die für die Militärmissionen von Interesse sein können.
„Win-win Situation“ für beide Seiten
Die Kooperation von militärischen und polizeilichen bzw. grenzpolizeilichen Apparaten hat auch innerhalb der EU Konjunktur. Bereits Anfang 2017 hatte sich der Rat für Auswärtige Angelegenheiten und internationale Beziehungen für die Einrichtung einer „Kriminalitätsinformationszelle“ („Crime information cell“, CIC) zwischen Europol und Frontex einerseits und der EU-Militäroperation im zentrale Mittelmeer EUNAVFOR MED andererseits ausgesprochen, die den bisher schon möglichen Informationsaustausch zwischen beiden Seiten verstärken sollte. Am 14. Mai 2018 wurde das Mandat der Militäroperation formell erweitert.[2] Die neue Zusammenarbeit soll der Kriminalitätsprävention, Ermittlung und Strafverfolgung dienen. Im Mittelpunkt steht der zivil-militärische Austausch sowohl von Risikoanalysen als auch von personenbezogenen Daten, um diese gegen Terrorismus, Schleusungskriminalität, Menschenhandel, illegalen Waffenhandel und andere Formen grenzüberschreitender Kriminalität zu nutzen.
Die EU-Agenturen sowie ausgewählte Mitgliedstaaten entsenden dafür zehn ExpertInnen aus dem Bereich der Strafverfolgung zur EU-Militärmission EUNAVFOR MED im Mittelmeer. Sofern möglich, sollen die ExpertInnen aus den Mitgliedstaaten über einen militärischen Status verfügen. So heißt es im Bericht über einen gemeinsamen „Workshop“ diverser Ratsarbeitsgruppen sowohl aus dem außen- und militärpolitischen Bereich (GSVP) als auch aus dem Sektor der Justiz- und Innenpolitik vom November 2017.[3] In Frage kommen dafür in erster Linie Angehörige der Gendarmerien, die es in einigen Mitgliedstaaten gibt. Als mögliche Teilnehmerin wird daher nicht zufällig auch die paramilitärische, formell nicht zur Europäischen Union gehörende Gendarmerietruppe EUROGENDFOR genannt, die in Libyen in beratender Funktion in der EUBAM-Mission mitarbeitet. Außerdem soll die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) in der „Kriminalitätsinformationszelle“ mitarbeiten. Den Plänen zufolge werden die beteiligten BeamtInnen auf dem italienischen Flugzeugträger stationiert, der auch das Hauptquartier von EUNAVFOR MED beherbergt.
Die „Kriminalitätsinformationszelle“ ist ein weiterer Link zwischen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU sowie den Bereich Justiz und Inneres (JI) und damit zwischen den Politikbereichen des Auswärtigen Dienstes und der Europäischen Kommission. Die Einrichtung der CIC stützt sich für den Bereich der Migration auf die „Erklärung von Malta“ vom 3. Februar 2017[4] und der dort vorgetragenen Forderung eines „integrierten Ansatzes“, in den „relevante internationale Partner, die beteiligten Mitgliedstaaten, GSVP-Missionen und -Operationen, Europol und die Europäische Grenz- und Küstenwache einzubeziehen sind“. Für den Bereich der Terrorismusbekämpfung wird in den Schlussfolgerungen des Rates für Außenbeziehungen vom 19. Juni 2017 zu einer „verstärkten Zusammenarbeit und zur Ermittlung von Synergien zwischen Maßnahmen im Bereich GSVP und JI“ aufgerufen.[5] Mit der CIC scheint dieses Ziel erreicht, jedenfalls ist laut der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch in einem eingestuften Dokument des EU-Militärstabes[6] von einer „win-win Situation“ für die zivilen und militärischen EU-Missionen die Rede.
Der Datentausch in der „Kriminalitätsinformationszelle“ soll „reziprok“ sein, die Militärs also auch Informationen aus dem Bereich Justiz und Inneres erhalten. Wie es in dem oben zitierten Workshop-Bericht vom November 2017 heißt, könnten die Militärs zudem davon profitieren, dass die beiden Agenturen aus dem JI-Bereich sämtliche erhaltenen Informationen in „allen relevanten“ Datenbanken abgleichen. Dabei dürfte es sich zum einen um die einschlägigen Analysedateien von Europol aus dem Bereich Terrorismus und Schleuserkriminalität, zum andern auch um das Schengener Informationssystem handeln. Etwaige Treffer sollen auch zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaften dienen, auch Eurojust ist in die Zusammenarbeit involviert. Für den Empfang und das Verarbeiten der militärischen Aufklärungsdaten hat Europol in Den Haag ein „Information Clearing House“ (ICH) gegen „Migrantenschmuggel“ eingerichtet.[7] Die Dokumentationsstelle ist als Organisationseinheit im „Zentrum gegen Migrantenschmuggel“ angesiedelt, das wiederum zur Abteilung „Operationen“ bei Europol gehört.[8] Fünf EU-Mitgliedstaaten sowie Frontex sind der Kommission zufolge bereits am „Clearing House“ beteiligt: Deutschland, Griechenland, Italien, Spanien und Großbritannien.
Frontex startet Drohnen im Mittelmeer
Frontex soll außer Personendaten auch „Informationen aus der Überwachung“ mit der EU-Militärmission teilen. Die Grenzagentur will noch in diesem Jahr Langstreckendrohnen der MALE-Klasse im Mittelmeer einsetzen, zwei Verträge für verschieden große Luftfahrzeuge wurden bereits unterschrieben. Die unbemannten Plattformen sollen zunächst in einer Testphase an 120 Kalendertagen des Jahres in die Luft steigen. Sie sind mit hochauflösenden Kameras, Infrarotgeräten für den Nachtflug und Empfängern für Schiffspositionsdaten ausgestattet. Seit Dezember vergangenen Jahres stellt die italienische Luftwaffe im Rahmen von EUNAVFOR MED vor der libyschen Küste Flugstunden seiner unbewaffneten „Predator“-Drohnen zur Verfügung.
Probleme ergeben sich jedoch beim Mandat der Militärmission, das der „Kriminalitätsinformationszelle“ eigentlich entgegensteht. Kernauftrag der Militärmission ist die „Bekämpfung krimineller Schleusernetzwerke“ vor der libyschen Küste. Nachträglich wurde EUNAVFOR MED mit zwei „Unterstützungsaufgaben“ mandatiert, darunter der Ausbildung der libyschen Küstenwache und Marine in der Kontrolle der Seegrenzen. Nach zwei Resolutionen des UN-Sicherheitsrats wird durch EUNAVFOR MED auch das Waffenembargo gegen Libyen überwacht. Die Militäroperation verfügt zwar nicht selbst über eine rechtliche Grundlage zur Terrorismusbekämpfung oder Strafverfolgung, soll aber durch den Informationsaustausch die Strafverfolgung unterstützen.
Die EU versteht die CIC in EUNAVFOR MED als ein Pilotprojekt. Die Militäroperation im Mittelmeer sei dafür „besonders geeignet“ („particularly well suited“), weil ihr Mandat bereits die Erhebung und Weitergabe von Daten erlaubt. Nach erfolgreicher Bewertung könnte das Modell auf andere Missionen übertragen werden, denen allerdings die Befugnis zur Datenerhebung fehlt. Eine solche Bestimmung müsste für die übrigen EU-Missionen nachgeholt werden.
Ein weiteres Problem ist die Einstufung der ausgetauschten Daten. Im militärischen Bereich sind Informationen oft als geheim oder streng geheim klassifiziert, weshalb Strafverfolgungsbehörden sie nicht einsehen dürfen. Um sie in einer „Kriminalitätsinformationszelle“ bearbeiten zu können, müssten sie niedriger eingestuft werden. Nicht in allen EU-Staaten ist es jedoch erlaubt, Daten aus militärischen Quellen für die Strafverfolgung zu nutzen.
Biometrische Daten aus Syrien und Irak
Europol hat außerdem eine neue Kooperation mit internationalen Geheimdiensten und Militärs Rahmen der US-Operation „Gallant Phoenix“ begonnen. Die Polizeiagentur soll biometrische Daten verarbeiten dürfen, die das US-Militär in Kampfgebieten in Syrien und im Irak sammelt.[9] „Gallant Phoenix“ mit 21 beteiligten Staaten steht unter Leitung des Joint Special Operations Command, das die Spezialeinheiten aller US-Teilstreitkräfte (darunter auch Militärgeheimdienste) befehligt. Der eigentliche Standort der Operation ist in Jordanien. Europol hat jetzt einen Verbindungsbeamten für die Operation benannt, der jedoch keinen direkten Zugriff auf dort geführte Datenbanken hat. Im Rahmen von „Gallant Phoenix“ erhält Europol seine Informationen über das FBI und kann diese anschließend mit eigenen Datenbanken abgleichen und in seinen Analysedateien speichern.[10]
Laut der „Berliner Morgenpost“ handelt es sich bei den in „Gallant Phoenix“ ausgetauschten Daten beispielsweise um „Fingerabrücke von Kalaschnikows, Spuren von Anschlagsorten oder DNA-Proben von getöteten IS-Terroristen“.[11] Der EU-Terrorismuskoordinator zählt auch abgehörte Telefongespräche zu den in „Gallant Phoenix“ anfallenden Informationen. Vor dem Datentausch soll ein Abkommen mit der US-Regierung unterschrieben werden, das die Verarbeitung eingestufter Informationen regelt. Möglicherweise würden Personen aufgrund der aus Kampfgebieten übermittelten Erkenntnisse anschließend im Schengener Informationssystem zur Fahndung oder heimlichen Beobachtung ausgeschrieben. Schließlich könnten die vom Militär erhaltenen Daten auch Rückschlüsse auf Finanztransaktionen liefern. Europol hat bereits auf anderem Wege Daten zu mindestens 26.000 Personen vom „Terrorist Screening Centre“ des FBI erhalten.
Teilnehmende Staaten bleiben geheim
In den Informationsaustausch mit „Gallant Phoenix“ ist auch Interpol eingebunden. Über die internationale Polizeiorganisation sollen bereits fünf RückkehrerInnen identifiziert und anschließend festgenommen worden sein. Möglicherweise handelt es sich dabei um Maßnahmen des „Projekts Kalkan“, mit dem Interpol Behörden im Irak bei der Verfolgung der Aktivitäten von „ausländischen Kämpfern“ unterstützt.[12]
Die US-Regierung hat laut einem Bericht des „Spiegel“ aus dem Jahre 2016 auch dem Bundesnachrichtendienst eine Beteiligung an „Gallant Phoenix“ angetragen.[13] Dadurch sollte der Auslandsgeheimdienst an Informationen und Reisebewegungen von „Islamisten aus Deutschland“ gelangen, wenn sich diese im Irak und in Syrien aufhalten. Das Kanzleramt soll eine Beteiligung zunächst abgelehnt haben, da die USA die gewonnenen Informationen möglicherweise für Militäraktionen gegen deutsche DschihadistInnen verwendeten. Inzwischen nimmt der Bundesnachrichtendienst an „Gallant Phoenix“ teil.[14] Sämtliche weiteren Angaben zu den teilnehmenden Staaten hält die Bundesregierung geheim.[15]
Neuauflage des Projekts „VENNLIG“?
Bereits in zwei Vorläuferprojekten hatten europäische Justiz- und Innenministerien Informationen des US-Verteidigungsministeriums über „ausländische Terroristen“ verarbeitet. Ab 2006 etablierte das US-Militär die Projekte „VENNLIG“ für den Irak und „HAMAH“ für Afghanistan. Der Datenaustausch wurde über das FBI und das Interpolbüro der USA in Washington abgewickelt. Auch das BKA nahm daran teil, stellte die Zusammenarbeit jedoch nach Angaben des Bundesinnenministeriums im Jahre 2012 wegen rechtlicher Bedenken ein.[16] Mit dem Rückzug vieler Koalitionstruppen aus dem Irak und Afghanistan endeten die Projekte. Laut dem US-Justizministerium enthielten sie damals Namen von 48.000 Personen sowie 53.000 weitere „Hinweise“. Seit Jahren drängt der EU-Anti-Terrorismuskoordinator auf die Wiederaufnahme. Seinen neuen Plänen zufolge soll „VENNLIG“ wieder aufgelegt werden, jetzt allerdings unter Federführung der irakischen Behörden.[17] Die Übermittlung von Informationen zu „ausländischen Kämpfern“, ihren biometrischen Daten oder ihren DNA-Profilen könnte dann über das Interpolbüro in Bagdad erfolgen. Nachdem die US-Regierung „grünes Licht“ für den neuen Datentausch mit dem Irak gegeben hat, könnte mit dem Aufbau der benötigten technischen Infrastruktur begonnen werden.
Perspektivisch könnten Europol und Interpol auch biometrische Daten von der NATO erhalten. Die Europäische Union prüft derzeit die Finanzierung eines entsprechenden Projektes im Irak. Denkbar wäre auch der Zugang Europols zu der bei der NATO geführten „Biometric Enhanced Watch List“. Weitere Informationen aus Kampfgebieten könnte Europol mit der Kommission für internationale Justiz und Verantwortung (CIJA) austauschen. Dabei handelt es sich um einen privaten Zusammenschluss von ErmittlerInnen und Staatsanwaltschaften, der im Irak und in Syrien Beweise für Kriegsverbrechen sammelt. Die in den Niederlanden registrierte CIJA hat rund 150 Angestellte und wird unter anderem von der Europäischen Union und Deutschland finanziert. Europol sucht nun Möglichkeiten für einen direkten Zugang zur CIJA-Datenbank. Ein nicht genannter EU-Mitgliedstaat will hierfür als Datenmakler fungieren.