Nach Art des Musterentwurfs – das Polizeiaufgabengesetz der DDR

Nicht erst seit dem endgültigen Beitritt der DDR zur BRD begann die Angleichung des Polizeirechts an die Gegebenheiten der Bundesrepublik. Noch unter der Regierung de Maiziére verabschiedete die Volkskammer ein Polizeiaufgabengesetz (PAG), das in wesentlichen Teilen dem „Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz des Bundes und der Länder“ (MEPolG) folgt und auch die darin enthaltenen Vorfeldbefugnisse sowie die um die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ erweiterte Aufgabendefinition ent-hält. Das PAG gilt in den neuen Ländern bis zur Verabschiedung eigener Polizeigesetze weiter.
Ein erster Entwurf für ein Polizeigesetz – von der Liberalen Fraktion eingebracht – wurde in der Volkskammer am 20. Juli 1990 in 1. Lesung beraten und zur Bearbeitung an den Innenausschuß verwiesen. Er war konzipiert als Rahmengesetzentwurf für die Länder der DDR. Der kurz darauf fertiggestellte Entwurf aus dem Hause von Innenminister Diestel kam in 1. Lesung am 30. August in die Volkskammer. Im Gegensatz zum Entwurf der Liberalen beabsichtigte er lediglich, eine Art Übergangsgesetz zu sein.

„Mit der Einheit Deutschlands am 3.10.1990 wäre, würde dieses neue Polizeiaufgabengesetz nicht beschlossen, die Polizei auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ohne eine notwendige Rechtsgrundlage. Da die Polizeigesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland auf Länderebene erfolgt und die Polizeigesetze dieser Länder ausschließlich auf deren Territorien gelten, ist auch eine Übernahme bundesdeutschen Polizeirechts durch den Einigungsprozeß nicht möglich“, so Diestel bei der Vorstellung seines Entwurfs in der Volkskammer.

Tatsächlich hat das zwei Wochen später verabschiedete PAG die neuen Länder zunächst davon entbunden, in aller Eile eigene Gesetze über Aufgaben und Befugnisse der Polizei zu fabrizieren – ein Argument, das offenbar allen Fraktionen eingeleuchtet hat. Was auf administrativem Wege nicht möglich war – die Übernahme bundesdeutschen Rechts – hat die Volkskammer am 13. September geschaffen. Sie hat in wesentlichen Bereichen, zum Teil sogar im Wortlaut, den Musterentwurf der bundesdeutschen Innenministerkonferenz verabschiedet.

Aufgabennorm

Das bis dahin geltende „Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei“ (VPG) hatte die traditionelle Aufgabengeneralklausel des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes (PVG) von 1931, das in der DDR bis 1968 formal in Kraft war, bis zur Unkenntlichkeit ausgedehnt. Nicht mehr die Abwehr von Gefahren, sondern die „Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ sollte Aufgabe der Polizei sein. „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“ wurden in diesem Gesetz und in der Praxis zugleich als in höchstem Maße politische Aufgaben verstanden. Das VPG entledigte die Polizei einer lästigen Eingrenzung der ohnehin knappen preußisch-deutschen Rechtsstaatstradition. Die Aufgabe der Gefahrenabwehr gemäß PVG verlangte von der Polizei, die Verursachung einer Gefahr individuell zuzuordnen und auch die Reaktion, den Eingriff in die Grundrechte, auf die Verantwortlichen für diese Gefahr – die sog. Störer – einzuschränken. Demgegenüber werden durch das VPG von 1968 nicht einzelne Störer, sondern potentiell die gesamte Gesellschaft wurden rechtlich zu polizeipflichtigen Personen gemacht.

Statt an die rechtsstaatlichen Traditionen anzuknüpfen und auf die Gefahrenabwehr – etwa in der Fassung des 14 PVG – zurückzugreifen, übernimmt das PAG in 1 den vollen Wortlaut des 1 des bundesdeutschen Musterentwurfes und damit die zusätzlichen Aufgabenbeschreibungen „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ und „Gefahrenvorsorge“. Konsequenterweise wird der Kreis der polizeipflichtigen Personen auch nicht auf die für Gefahren Verantwortlichen, d.h. „Störer“ ( 6 und 7), eingegrenzt. Sollen sich noch in 9 Maßnahmen nur in Ausnahmefällen gegen „andere Personen“ richten können, so ist es mit der zeitlichen Begrenzung des Eingriffs gegen Nicht-Störer und dessen Einschränkung auf Fälle gegenwärtiger erheblicher Gefahr spätestens dann vorbei, wenn es um konkrete Befugnisse geht. Wie die neueren westdeutschen Gesetze und Entwürfe enthält das PAG insbesondere unter Bezug auf die vorbeugende Verbrechensbekämpfung die volle Palette der im MEPolG enthaltenen Befugnisse im Vorfeld von Gefahren, etwa
– zur Identitätsfeststellung, Durchsuchung und erkennungsdienstlichen Behandlung im Zusammenhang mit Kontrollstellen, öffentlichen Einrichtungen und „gefährdeten Orten“, wobei die Regelung des MEPolG von 1977 nur leicht verändert wurde,
– zur elektronischen Datenverarbeitung einschließlich polizeilicher Beobach-tung und Rasterfahndung,
– zu verdeckten Methoden (Observation, Einsatz von technischen Mitteln incl. Abhören, Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern)
und
– zur Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen.

All dies sind Befugnisse, die sich ihrem Charakter nach nicht auf Verdächtige oder Störer begrenzen lassen.

Demokratische Lehren gezogen?

Wer meint, 40jährige Erfahrung mit einem Polizeistaat bringe eine besondere Sensibilität bei der Schaffung eines neuen Polizeirechtes hervor, sieht sich im Falle der Volkskammer-Abgeordneten gründlich getäuscht – sowohl hinsicht-lich des Gesetzesinhalts als auch bezüglich des Verfahrens parlamentarischer Beratung.

Diese umfaßte – einschl. der 1. Lesung des Entwurfs der Liberalen – insgesamt 7,5 Seiten im Plenarprotokoll. Der Entwurf aus dem Hause Diestel, die Grundlage des verabschiedeten PAG, wurde im Plenum erst gar nicht diskutiert. In der 1. Lesung stellte der Minister sein Gesetz vor, in der 2. Lesung sprach der Abgeordnete Brinksmeier (SPD) als Berichterstatter des Ausschusses. Als in Ansätzen kontrovers läßt sich allenfalls die 1. Lesung des Entwurfs der Liberalen bezeichnen, bei der Vertreter aller Parteien sich in allgemeinster Form über Grundsätze äußerten und die Notwendigkeit beschworen, Lehren aus 40 Jahren Polizeistaat zu ziehen. Nur die Reden des Abgeordneten Gauck (B’90) und Brinksmeier (SPD) enthalten einige Elemente von Kritik an Vorfeldmaßnahmen und Datenverarbeitung.

Betrachtet man die verabschiedete Fassung des PAG, so bleiben von den vier Eckpunkten, die Brinksmeier für ein neues Polizeirecht für ausschlaggebend hält – Rechtsstaatsprinzip, Grundrechte, Zusammenhang mit dem Polizeirecht der westdeutschen Länder und mit der Strafprozeßordnung der BRD – allenfalls die letzten beiden. Selbst hinsichtlich der westdeutschen Strafprozeßordnung (StPO) übt die Volkskammer vorauseilenden Gehorsam, denn diese enthält – noch – nicht sämtliche Vorfeldbefugnisse, welche die „Große Koalition der Inneren Sicherheit“ in Bonn so gern in ihr verankert sehen möchte.

Markante Unterschiede zu bundesdeutschen Polizeigesetzen bilden so nur der Verzicht auf eine Todesschußregelung sowie die Verpflichtung zum Tragen von Dienstnummern bei geschlossenen Einsätzen ( 11 Abs. 2). Die Achtung der Menschenrechte als „oberste Pflicht der Polizei“ ( 3 Abs. 1) dagegen ist gegenüber dem problematischen Rest des Gesetzes eine wohlklingende aber leider bedeutungslose Formel.

Die Abgeordneten – selbst der linken und liberalen Parteien – der Volkskammer waren sich offensichtlich nicht einmal im Ansatz bewußt, was die Volkskammer am 13. September ohne Gegenstimmen und mit nur wenigen Enthaltungen verabschiedete. Symptomatisches Beispiel für diese Bewußtlosigkeit ist die Frage des Abgeordneten Weiß (B’90) bei der Debatte des Entwurfs der Liberalen:
„Herr Abgeordneter, teilen sie mit mir die Auffassung, daß es einen Widerspruch gibt zwischen 72 und 67? 72 sieht in Artikel 3 vor, daß der Schußwaffengebrauch gegen Schwangere unzulässig ist. Im Artikel 67 Absatz 2 wird jedoch festgestellt, daß auch ungeborene Kinder, wenn die Mutter getötet worden ist, einen Anspruch auf Schadensersatz haben“.

Nun mag man dies für eine besondere Note des Abgeordneten Weiß halten. Fest aber steht, daß die Volkskammer im ersten Anlauf den Standard westdeutschen Parlamentarismus übererfüllt hat. In den Parlamenten der alten Länder hat (außer)parlamentarische Kritik immerhin dazu geführt, daß Polizeigesetze nicht mehr widerspruchsfrei und im Eilverfahren durchgeritten werden.

Das verabschiedete PAG wurde durch den Einigungsvertrag bestätigt. Nur in Ost-Berlin gilt durch die Vereinigung mit dem Westteil der Stadt nunmehr das Berliner Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG). Für die restlichen Länder der Ex-DDR hat das PAG weiterhin Gültigkeit, bis eigene Landesgesetze erarbeitet werden. Dies dürfte noch eine ganze Weile dauern, denn die Länder müssen sich zunächst einmal auf den Organisationsaufbau und die Schaffung eines eigenen Organisationsrechtes konzentrieren. So, wie die Polizeirechtsentwicklung in der BRD vonstatten geht, dürfte eine Wendung weg von den Vorfeldbefugnissen zurück zum reinen Gefahrenabwehrrecht allerdings kaum zu erwarten sein.

Heiner Busch ist Redaktionsmitglied und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.