von Hendrik Cremer
„Niemand darf wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden“, heißt es in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG). Diese Fundamentalnorm der Verfassung lässt Polizeikontrollen, die auf einer Methode des „Racial“ oder „Ethnic Profiling“ beruhen, nicht zu. Die Polizei darf unveränderliche Merkmale, die das äußere Erscheinungsbild eines Menschen prägen, nicht als Auswahlkriterium für anlasslose Personenkontrollen heranziehen.
§ 22 Abs. 1a des Bundespolizeigesetzes (BPolG) ermächtigt die Bundespolizei, Personen in Bahnhöfen, Zügen und Flughäfen zum Zweck der Migrationskontrolle ohne konkreten Anlass und ohne konkreten Verdacht zu kontrollieren. Die Bundespolizei kann demnach jede Person anhalten, befragen und Ausweispiere verlangen sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen. Die Bestimmung ist zwar dem Anschein nach neutral, führt aber zu rassistischen Diskriminierungen und verstößt damit gegen das Diskriminierungsverbot.[1]
Das Verbot rassistischer Diskriminierung ist ein elementarer Bestandteil der europäischen und internationalen Menschenrechtsschutzsysteme. Es findet sich etwa Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 2 Abs. 1 und Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sowie in der Anti-Rassismus-Konvention (ICERD). Sämtliche Verträge sind von Deutschland ratifiziert worden und damit innerstaatlich geltendes Recht, an das Polizei und Gerichte gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG).
Die Gewährleistungen der von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsverträge sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auch bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen, um Völkerrechtsverstöße zu vermeiden.[2] Das Verbot rassistischer Diskriminierung nach Art. 3 Abs. 3 GG ist demzufolge unter Berücksichtigung menschenrechtlicher Garantien aus europäischen und internationalen Menschenrechtsverträgen auszulegen.
Phänotyp als Grundlage der Diskriminierung
Art. 3 Abs. 3 GG schützt vor Ungleichbehandlungen, die an dem phänotypischen Erscheinungsbild eines Menschen anknüpfen. Wählt die Bundespolizei unveränderliche Merkmale, die das äußere Erscheinungsbild eines Menschen prägen, wie Hautfarbe oder Gesichtszüge, als Auswahlkriterium für anlasslose Personenkontrollen, liegt eine solche Ungleichbehandlung vor.
Das Verbot von Ungleichbehandlungen wegen des phänotypischen Erscheinungsbildes ist ein wesentlicher Bestandteil des Verbots rassistischer Diskriminierung. Alle genannten Bestimmungen der EMRK und des IPbpR wie auch die Anti-Rassismus-Konvention verbieten eine Ungleichbehandlung aufgrund der Merkmale „Rasse“ und „Hautfarbe“. Dabei ist der Bezug auf diese Merkmale so zu lesen, dass sie sich auf die dahinterstehende rassistische soziale Konstruktion von Menschengruppen beziehen. Insofern ist es unerheblich, dass Art. 3 Abs. 3 GG „Hautfarbe“ nicht explizit als spezielles Diskriminierungsmerkmal nennt: Wenn das Grundgesetz Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“ verbietet, dann ist das Differenzierungsmerkmal „Hautfarbe“ miterfasst. Schließlich gehen rassistische Konzepte – Ungleichbehandlungen aufgrund der „Rasse“ – historisch auf die Idee zurück, Menschen anhand biologistischer Kriterien – wie etwa Hautfarbe oder Gesichtszüge – zu klassifizieren.[3] Dabei werden aus einer Vielzahl sichtbarer körperlicher Eigenschaften einzelne Merkmale herausgegriffen und Grenzen zwischen den variierenden körperlichen Merkmalen von Menschen gezogen. Auf dieser Grundlage werden Menschen unterschieden und ihnen pauschal bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensmuster zugeschrieben.
Aus welchen Motiven heraus – nach dem Gesetz und/oder im Einzelfall – die Ungleichbehandlung erfolgt, ist dabei irrelevant. Für das Vorliegen einer Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG und menschenrechtlicher Diskriminierungsverbote ist einzig entscheidend, ob eine benachteiligende Behandlung durch staatlich zurechenbares Handeln gegeben ist.
Eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG und menschenrechtlicher Diskriminierungsverbote ist dann gegeben, wenn sie an ein Diskriminierungsmerkmal anknüpft.[4] Ob von der Bundespolizei weitere Kriterien als das phänotypische Erscheinungsbild bei einer anlasslosen Personenkontrolle herangezogen werden, ist für das Vorliegen einer Ungleichbehandlung unbeachtlich. Eine solche liegt auch dann vor, wenn weitere Kriterien – wie etwa das Reisen mit Gepäck – für die Auswahl existieren. Eine gegenteilige Auffassung, etwa der Bundesregierung,[5] ist grund- und menschenrechtlich nicht haltbar. In diesem Fall werden zwar nicht alle Personen, die nach dem physischen Erscheinungsbild ins Raster fallen, kontrolliert. Es werden aber weiterhin nur Personen kontrolliert, die diese Voraussetzung (auch) erfüllen. Folglich bleibt es bei einer Ungleichbehandlung aufgrund des phänotypischen Erscheinungsbilds.
Schutz vor faktischen Diskriminierungen
Art. 3 Abs. 3 GG und die menschenrechtlichen Diskriminierungsverbote schützen nicht nur vor Gesetzesbestimmungen, die schon nach ihrem Gesetzeswortlaut Ungleichbehandlungen vorsehen. Sie kommen auch dann zum Tragen, wenn Gesetzesbestimmungen nicht unmittelbar ersichtlich zu Diskriminierungen führen.[6] Aus der Perspektive der Betroffenen – auf diese kommt es beim Grund- und Menschenrechtsschutz an – ist es unerheblich, ob Diskriminierungen direkt aus dem Gesetz ablesbar sind, oder ob sie erst in der Ausführung durch die Exekutive ersichtlich werden. Auch solche Bestimmungen sind anerkanntermaßen grund- und menschenrechtswidrig. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), des BVerfG[7] wie auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)[8] trifft den Gesetzgeber eine Ergebnispflicht zum Schutz vor faktischer Diskriminierung. Auch nach der Anti-Rassismuskonvention kommt es ausdrücklich darauf an, ob Gesetze Diskriminierungen „bewirken“.[9]
Dem Wortlaut von § 22 Abs. 1a BPolG lässt sich ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG nicht entnehmen. Er spricht nicht etwa von Personen mit einem bestimmten Aussehen, etwa von Personen mit „dunkler Hautfarbe“, sondern von „jeder Person“, die kontrolliert werden kann. Ob § 22 Abs. 1a BPolG mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar ist, richtet sich indes nicht allein nach einer reinen, isolierten Wortlautbetrachtung der Norm. Entscheidender sind hier vielmehr der Zweck der Norm und seine Auswirkungen in der Praxis.
In der Gesetzesbegründung wie auch in der Literatur ist davon die Rede, dass die Personenkontrollen der Bundespolizei gemäß § 22 Abs. 1a BPolG „stichprobenartig“ erfolgten.[10] Dieser Terminus ist missverständlich, weil man damit assoziieren könnte, die Kontrollen würden einem bestimmten, festgelegten System folgen, von dem grundsätzlich jede Person erfasst werden kann. Dies ist indes nicht der Fall. Die Befugnis, jede Person anhalten und kontrollieren zu können, ermächtigt die kontrollierenden BundespolizistInnen vielmehr dazu, in einem Zug, in einem Bahnhof oder Flughafen frei auszuwählen, welche Personen sie kontrollieren. Die einzelnen Personen werden von den jeweiligen BeamtInnen der Bundespolizei vor Ort ausgesucht.
§ 22 Abs. 1a BPolG ermächtigt die BeamtInnen der Bundespolizei demnach dazu, selektiv vorzugehen, ohne dabei das Verhalten einer Person zum Anlass ihrer Kontrolle nehmen zu müssen. Es soll vielmehr Ausschau gehalten werden nach Personen, die sich unerlaubt im Land aufhalten. Bei einem solchen Gesetzesauftrag ist es naheliegend, dass die Bundespolizei die Personen in erster Linie nach phänotypischen Merkmalen aussucht. Es kann ja in der Realität im Wesentlichen nur um (solche) äußerliche Merkmale gehen, wenn die Auswahl allein durch Inaugenscheinnahme geschehen kann und soll.[11] Das Gesetz suggeriert folglich, dass sich der Aufenthaltsstatus von Menschen auf der Grundlage phänotypischer Merkmale festmachen ließe. Vor diesem Hintergrund ergibt sich bereits aus der Norm selbst, aus ihrem Zweck, dass sie auf Diskriminierungen angelegt ist.
In welchem Umfang die Praxis diskriminierender Personenkontrollen auf der Grundlage von § 22 Abs. 1a BPolG geschieht, lässt sich statistisch zwar nicht erfassen. Für die BundespolizistInnen bilden unveränderliche äußerliche Merkmale aber regelmäßig ein Verdacht auslösendes Kriterium, welche sie bei den Kontrollen als Auswahlkriterium heranziehen.[12] § 22 Abs. 1a BPolG ist vor diesem Hintergrund nicht mit Art. 3 Abs. 3 GG in Einklang zu bringen.
Keine Rechtfertigung
Selektive Personenkontrollen, die auf Kriterien wie der Hautfarbe oder anderen physischen Merkmalen eines Menschen basieren, sind grund- und menschenrechtlich absolut verboten. Es geht im Falle selektiver Personenkontrollen um den Kern des grund- und menschenrechtlich verbrieften Diskriminierungsschutzes, der im engen Zusammenhang zum Ausgangspunkt der Menschenrechte steht: dem Schutz der individuellen Menschenwürde.[13]
Der selektiven Personenkontrolle liegt ein Pauschalverdacht zugrunde. Ein solcher Verdacht wiegt schwer, so dass es auch nicht darauf ankommt, ob sich die betroffene Person dieses Verdachts durch Vorlage von Ausweispapieren wieder schnell entledigen kann. Ohne dass sie durch ihr Verhalten einen Anlass gegeben hat, wird sie in einen kriminellen Zusammenhang gestellt. Grund ist die Zuordnung zu einer Gruppe, die über nicht veränderliche Merkmale wie Hautfarbe oder andere äußerliche Merkmale definiert wird. Mit dem Anknüpfen einer belastenden hoheitlichen Maßnahme an ein unveränderliches Merkmal wird der persönliche Achtungsanspruch Betroffener negiert.
Abgesehen davon, dass das Handeln von PolizistInnen in solchen Fällen auf Stereotypen basiert, hat ihr Handeln – als Staatsgewalt – eine Außenwirkung, die bestehende Stereotype in der Gesellschaft in besonderem Maße bekräftigen kann. Die Betroffenen werden dadurch öffentlich für die ganze Umgebung sichtbar in einen kriminellen Kontext gestellt. Bestehende Stereotype bei Außenstehenden können so in besonderem Maße bekräftigt werden.[14] Dies gilt umso mehr, als die Polizei in der Regel nur dann Personen kontrollieren darf, wenn ein konkreter Anlass besteht. Bei Ausstehenden wird damit der Eindruck erweckt, dass sich eine kontrollierte Person verdächtig gemacht hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale „nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt.“[15] Selektive Kontrollen, die auf rassistischen Kriterien wie der Hautfarbe oder anderen physischen Merkmalen wie die Gesichtszüge eines Menschen basieren, knüpfen an dem in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmal der „Rasse“ an. Sie sind demnach absolut verboten.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wertet rassistische Diskriminierung als besonders schwerwiegende und verletzende Form der Diskriminierung mit tiefgreifenden Gefahren für die Gesellschaft. Das Verbot rassistischer Diskriminierung ist demnach von herausragender Bedeutung; die Bekämpfung von Rassismus ein wichtiges öffentliches Interesse.[16] Dementsprechend hat der EGMR wiederholt darauf hingewiesen, dass eine unmittelbare rassistische Differenzierung in einer modernen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht sachlich gerechtfertigt werden kann.[17]
Zum gleichen Ergebnis kommt der UN-Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte. Er hat in einer einschlägigen Entscheidung ausgeführt, dass selektive Personenkontrollen, die sich an spezifischen körperlichen Merkmalen orientieren, nicht nur die Würde der Betroffenen beeinträchtigen, sondern auch zur Verbreitung xenophober Einstellungen in der allgemeinen Öffentlichkeit beitragen und einer wirksamen Politik zur Bekämpfung von Rassismus zuwiderlaufen.[18]
Dementsprechend fordert der UN-Anti-Rassismus-Ausschuss unter Bezugnahme auf die Verpflichtungen aus der Anti-Rassismus-Konvention, dass die Vertragsstaaten präventiv tätig werden und Maßnahmen ergreifen, um „Racial Profiling“ grundsätzlich zu verhindern.[19]
Selektive Kontrollen sind nach alledem auch deswegen nicht zu rechtfertigen, weil sie auch gesamtgesellschaftlich negative Folgen haben: für das friedliche Zusammenleben, für das Vertrauen in die Polizei und für die Zugehörigkeit und Teilhabe betroffener Gruppen[20] in Deutschland. Eine auf Menschenrechten gründende Staats- und Gesellschaftsordnung wird untergraben, wenn Staatsorgane den auf der Menschenwürde beruhenden persönlichen Achtungsanspruch missachten und Menschen aufgrund unveränderlicher Merkmale pauschal verdächtigen.
Umfassende Konsequenzen erforderlich
Der Beitrag hat am Beispiel von § 22 Abs. 1a BPolG aufgezeigt, dass auch scheinbar neutrale Gesetzesbestimmungen gegen Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen können. § 22 Abs. 1a BPolG ist darauf angelegt, dass die BundespolizistInnen unveränderliche äußerliche Merkmale bei der Auswahl von Personen heranziehen und demzufolge regelmäßig diskriminierende Personenkontrollen vornehmen.
§ 22 Abs. 1a BPolG verstößt im Übrigen nicht nur gegen das Verbot rassistischer Diskriminierung, sondern auch gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit und ‑bestimmtheit.[21] Der Gesetzgeber hat die Norm daher dringend aufzuheben.
Die Erläuterungen zu § 22 Abs. 1a BPolG in diesem Beitrag sind beispielhaft zu verstehen, da es weitere Gesetzesbestimmungen auf Bundes- und Landesebene gibt, die vergleichbar weitreichende polizeiliche Ermächtigungen zu anlasslosen Personenkontrollen beinhalten. Die Praxis des „Racial Profiling“ ist in der Polizeiarbeit in Deutschland weit verbreitet. Sie aufzubrechen, muss ein Kernanliegen des freiheitlichen und auf Menschenrechten basierenden Rechtsstaates sein.
Dazu ist es ebenso erforderlich, dass das grund- und menschenrechtliche Diskriminierungsverbot in der Polizeiarbeit fest und nachhaltig verankert wird. Erforderlich sind eine stärkere Vermittlung menschen- und grundrechtlichen Wissens und dessen Kontextualisierung in der Polizeiarbeit. Sowohl in der Ausbildung als auch in der Fortbildung von Polizeibeamten sollte dem Thema angemessener Raum gegeben werden. Auch Einsatzpläne und -strategien der Polizeibehörden sind dementsprechend zu überprüfen. PolizeibeamtInnen müssen in die Lage versetzt werden, ihre hoheitlichen Aufgaben stets ohne diskriminierendes Profiling durchzuführen.