Acht Monate in Europa. Von der „Flüchtlingskrise“ zum „Normalzustand“

von Heiner Busch

Über Jahrzehnte hinweg haben die EU und ihre Mitgliedstaaten ein Abwehrdispositiv gegen Geflüchtete und MigrantInnen aufgebaut. Seit April dieses Jahres scheint alles durcheinander zu gehen.

Genaue Zahlen wird es wohl niemals geben: Zwischen 800 und 900 Geflüchtete und MigrantInnen starben in der Nacht zum 19. April 2015, als ein libyscher Kutter rund 150 Kilometer nördlich der Küste des Landes sank. Die Katastrophe war vorauszusehen: Im Oktober 2014 hatte sich die EU geweigert, die Operation „Mare Nostrum“ zu übernehmen und fortzusetzen, mit der die italienische Regierung ein Jahr zuvor auf das bis dahin größte Unglück eines Flüchtlingsschiffes mit insgesamt 366 Toten reagiert hatte.

Ein Jahr lang waren Schiffe der italienischen Marine und Küstenwache bis in die Nähe der nordafrikanischen Küste patrouilliert.[1] An die Stelle von „Mare Nostrum“ trat am 1. November 2014 eine von der EU-Grenzschutzagentur Frontex organisierte Operation namens „Triton“ – mit weniger Schiffen und einem erheblich eingeschränkten Radius. Im Vordergrund stand nun nicht mehr die Rettung von Schiffbrüchigen, sondern wie gehabt der „Schutz“ der Grenzen. Dass die Zahl der Toten damit erneut steigen würde, war vorprogrammiert.

Die Katastrophe vom 19. April 2015 brachte eine erstaunliche Geschwindigkeit in die asyl- und migrationspolitische Debatte der EU. Bereits einen Tag danach trafen sich die Außen- und die Innenminister­Innen in Luxemburg und verabschiedeten einen von der EU-Kommission zusammengestellten Zehn-Punkte-Plan.[2] Weitere drei Tage später wurde das Thema zur Chefsache: Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, der Europäische Rat, einigten sich auf eine Erklärung.[3] Keine drei Wochen brauchte die EU-Kommission, um ihre „Europäische Migrationsagenda“ vorzulegen,[4] und noch im Mai folgte ein erstes Paket von Umsetzungsvorschlägen.

Seenotrettung oder Kampf gegen „Schlepper“

„Unsere unmittelbare Priorität ist es, zu verhindern, dass noch mehr Menschen auf See umkommen“, hieß es in der Erklärung des Europäischen Rats vom 23. April. Die Frontex-Operationen Triton vor Italien und Poseidon vor Griechenland wurden nun aufgestockt, ihr Radius ausgedehnt und das Budget für 2015 und 2016 verdreifacht.

Die Marineschiffe, die einige Mitgliedstaaten nun ins Mittelmeer entsandten, retteten aber nicht nur Menschenleben, sondern bildeten die Vorhut einer militärischen Aktion, die „das Geschäftsmodell der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im südlichen zentralen Mittelmeer unterbinden“ sollte. Nicht die andauernde Abriegelung der Außengrenzen, sondern die „kriminellen Machenschaften“ der „SchlepperInnen“, sollten nun als die eigentliche Ursache dafür gelten, dass sich Flüchtlinge und MigrantInnen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer begeben. Das Konzept der „militärischen Krisenbewältigungsoperation“ namens „EU NAVFOR MED“ (EU Naval Force Mediterranean) verabschiedeten die Außen- und VerteidigungsministerInnen am 18. Mai. Am 22. Juni begann die erste Phase, die der Sammlung von Erkenntnissen dienen sollte, am 7. Oktober die zweite, bei der nun auch verdächtige Schiffe auf offener See beschlagnahmt und zerstört werden sollen. Am 27. Mai legte die Kommission einen „Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten“ vor, der vor allem Europol und Frontex mit der polizeilichen Bekämpfung von „Schleppern“ beauftragte.[5]

Hilfe für die Staaten an der Außengrenze

Das so genannte Dublin-System, das heißt die gleichnamige Verordnung sowie die damit verbundenen Regelungen über die Fingerabdruckdatenbank Eurodac, bildete bisher die wohl gehütete Grundlage der EU-Asylpolitik. Danach darf ein Geflüchteter in der EU (und den assoziierten Ländern) nur einen Asylantrag stellen, für dessen Bearbeitung im Grundsatz derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, den er oder sie als ersten betreten hat. Alle „unzuständigen“ Staaten können die Betroffenen ins angebliche Erstasylland zurückschieben. Als die Rechtsgrundlagen dieses Systems Anfang 2014 erneuert wurden, hat man die Einwände, dass „Dublin“ äußerst ungleichgewichtig ist und die Verantwortung für den Schutz von Geflüchteten einseitig auf die Staaten vor allem an der südlichen Außengrenze abschiebt, schlicht ignoriert.

Dabei war damals schon längst klar, dass Griechenland und Italien nicht mehr in der Lage waren, für eine menschenwürdige Unterbringung und ein rechtsstaatliches Asylverfahren zu sorgen.[6] Nach den Katastrophen im April schienen auch die EU-Gremien den Notstand endlich zur Kenntnis zu nehmen. Unterstützung für die beiden Mittelmeer-Staaten war nun angesagt, und das gleich doppelt.

Zum einen sollten Italien und Griechenland nun Hilfe beim Empfang der Geflüchteten erhalten. Bereits im Zehn-Punkte-Plan der Kommission vom 20. April hieß es, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) solle „in Italien und Griechenland Teams für die gemeinsame Bearbeitung von Asylanträgen aufstellen.“ Drei Tage später präzisierte der Europäische Rat: Die Teams sollten bei der „Bearbeitung von Asylanträgen, einschließlich Registrierung und Erfassung von Fingerabdrücken,“ Hilfe leisten.

Es müsse mehr getan werden, „um die von den ankommenden Mi-granten direkt betroffenen Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen zu unterstützen“, erklärte im Mai auch die EU-Kommission in ihrer Migrationsagenda. Allerdings hatten sich die Prioritäten verkehrt: Die EU-Kommission kündigte nun ein „Brennpunkt“- bzw. „Hotspot“-Konzept an, „bei dem EASO, Frontex und Europol vor Ort … zusammenarbeiten werden, um ankommende Migranten rasch erkennungsdienstlich zu behandeln, zu registrieren und ihre Fingerabdrücke abzunehmen“. Die drei EU-Agenturen sollten sich in ihrer Arbeit ergänzen. Und das bedeutete: EASO-Teams sollten zwar bei der Bearbeitung von Asylanträgen helfen, Frontex würde dagegen die Abschiebung „nicht schutzbedürftiger“, „irregulärer“ MigrantInnen koordinieren und Europol sollte mit seinen Ermittlungen bei der „Zerschlagung von Schlepper- und Menschenhandelsnetzen“ helfen.

Die Identifizierung und Abnahme von Fingerabdrücken in den Vordergrund zu stellen, hätte aber zwei Konsequenzen gehabt: erstens für die betroffenen Flüchtlinge, deren unkontrollierte Weiterwanderung in einen anderen EU-Staat, der ihnen größere Chancen auf Anerkennung und/oder zumindest bessere Aufnahmebedingungen bieten kann, ausgeschlossen würde; der Eurodac-Abgleich würde ergeben, dass sie bereits in einem anderen EU-Staat gewesen sind. Zweitens für Italien und Griechenland, deren „Zuständigkeit“ für die Bearbeitung der jeweiligen Asylanträge damit festgeschrieben worden wäre.

„Die Mitgliedstaaten müssen die Vorschriften über die Abnahme von Fingerabdrücken von Migranten an den Grenzen in vollem Umfang anwenden“, insistierte die Kommission in der Migrationsagenda. Am 27. Mai legte sie ferner ein Arbeitsdokument „über die Umsetzung der Eurodac-Verordnung“ vor: Sofern Geflüchtete und MigrantInnen nicht freiwillig oder nach einer Erklärung der Rechtslage in die erkennungsdienstliche Behandlung einwilligen, sollen die Mitgliedstaaten den „data subjects“ mit Haft und „verhältnismäßiger“ Gewalt drohen bzw. die Drohung auch wahr machen. Am 25. Juli nahm der Rat diese Empfehlungen an.[7]

Umsiedlung – die erste

Die andere Seite der Unterstützung für Italien und Griechenland sollte eine Umverteilung von Flüchtlingen sein. „Optionen“ für ein entsprechendes Verfahren „in Notfallsituationen“ seien zu prüfen, erklärte der Rat am 20. April. Die „Umsiedlung“ (engl. relocation) rangierte denn auch unter den „Sofortmaßnahmen“, die die Kommission mit ihrer Mi­grationsagenda in Angriff nehmen wollte.

Basierend auf der „Notfallklausel“ des Art. 78 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU sollte ein „zeitlich befristeter Verteilungsmechanismus“ geschaffen werden. Wie viele Flüchtlinge in welches Land umzusiedeln seien, sollte auf der Basis der Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten, ihres Bruttoinlandsprodukts, der Arbeitslosenquote und der Zahl bereits aufgenommener Asylsuchender berechnet werden. Das sei jedoch nur die „Vorstufe für eine dauerhafte Lösung“, schrieb die Kommission weiter. Die EU brauche „ein auf Dauer angelegtes System, das es ermöglicht, die Verantwortung für die zahlreichen Flüchtlinge und Asylbewerber unter den Mitgliedstaaten aufzuteilen.“ Die Erfahrungen mit der befristeten Verteilung von Flüchtlingen sollten es ermöglichen, bei der 2016 anstehenden Überprüfung des Dublin-Systems zu entscheiden, ob dessen „rechtliche Parameter“ zu ändern seien.

Am 27. Mai präsentierte die Kommission ihren Vorschlag für „vorläufige Maßnahmen“, die insgesamt auf zwei Jahre befristet sein sollten.[8] 40.000 Personen sollten – nach ihrer eindeutigen Identifizierung und der Erfassung ihrer Fingerabdrücke – umgesiedelt werden, 24.000 aus Italien, 16.000 aus Griechenland. Dabei sollte es sich ausschließlich um Asylsuchende handeln, die „dem ersten Anschein nach eindeutig internationalen Schutz benötigen“, konkret um „Staatsangehörige von Ländern, die im EU-Durchschnitt eine Anerkennungsquote von mehr als 75 Prozent aufweisen“.

Dass diese Umsiedlungsaktion nicht ausreichen würde, um Italien und Griechenland zu entlasten, muss nicht lange erklärt werden: 137.000 Flüchtlinge hatten allein in den ersten sechs Monaten 2015 das Mittelmeer überquert. 67.500 kamen in Italien an, 68.000 in Griechenland. Klar war auch, dass es sich dabei um eine bürokratische Aktion handeln würde, bei der die Interessen der Umzusiedelnden genauso wenig eine Rolle spielen sollten wie im üblichen Dublin-Verfahren. Der ganze Prozess der „relocation“ sollte zwischen Kontaktstellen und VerbindungsbeamtInnen der Mitgliedstaaten abgewickelt werden. Die Entscheidung, wer umzusiedeln sei, würde jeweils Italien oder Griechenland zusammen mit dem EASO treffen. Ein Recht, den ihnen zugewiesenen Staat zu verlassen, sollten die Umgesiedelten nicht haben. Dass Flüchtlinge eine eigenständige Entscheidung treffen könnten, wo sie hingehen wollen, dass sie dafür gute Gründe haben könnten, blieb auch für die EU-Kommission eine schiere Horrorvorstellung.

Zunächst ließ sich jedoch nicht einmal dieses bürokratische Verfahren durchsetzen: Die folgenden Verhandlungen entpuppten sich als ein Geschachere, wer denn nun weniger Geflüchtete aufnehmen müsse. Beim Treffen der InnenministerInnen am 15. Juni 2015 widersetzten sich Frankreich, Spanien, Österreich und die osteuropäischen EU-Staaten dem festen Verteilschlüssel. Auch das Treffen der RegierungschefInnen am 25. Juni brachte kein Ergebnis. Das Kontingent von 40.000 Umzusiedelnden sollte nun durch freiwillige Zusagen erreicht werden. Am 20. Juli trafen sich die InnenministerInnen erneut und brachten es nun mit freiwilligen Zusagen auf 32.256 Umzusiedelnde.[9] Großbritannien und Dänemark nahmen die „opt-out“-Möglichkeit wahr, die ihnen die EU-Verträge zusichern. Auch Österreich und Ungarn beteiligen sich nicht. Die anderen osteuropäischen Staaten sowie Spanien blieben mit ihren Zusagen weit unter den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission.

Grenzen auf – Grenzen zu

Die Flüchtlinge und MigrantInnen warteten nicht, bis die EU ihre „Brenn­punkt“-Konzept montiert hatte und sie vielleicht gnädigerweise umverteilen würde – möglicherweise in ein Land, das sie eigentlich nicht aufnehmen will. An der italienisch-französischen Grenze kam es Mitte Juni zu Szenen der Gewalt. Die französische Polizei setzte Be­am­tInnen in Kampfmontur ein, um die Flüchtlinge auf die italienische Seite der Grenze nach Ventimiglia zurückzutreiben. Frankreich schloss die Grenze, was Premierminister Manuell Valls jedoch erst am 16. September bestätigte. [10] Am 30. September räumten Po­li­zei und Carabinieri das provisorische Lager auf der italienischen Seite.

Schon im Mai wuchs die Zahl der in Griechenland, vor allem auf Kos und Lesbos, ankommenden Flüchtlinge. Sie gingen, in der Regel ohne Eurodac-Registrierung, weiter aufs Festland und suchten danach einen Weg Richtung Norden.[11] Der Nicht-EU-Staat Mazedonien schloss zeitweise die Grenze und versuchte Flüchtlinge mit Gewalt von der Weiterreise abzuhalten. Serbien ließ sie durch. Ungarn begann Mitte Juli mit dem Bau eines Zauns an der serbischen Grenze. Wochenlang mussten Flüchtlinge am Budapester Bahnhof Keleti warten. Die ungarische Regierung verhinderte zunächst ihre Weiterreise und erlaubte sie dann wieder.

Österreich, das im Mai ein „Asylmoratorium“ angekündigt hatte, ließ die Leute durch, nachdem die deutsche Bundesregierung zuvor signalisierte hatte, dass man den Menschen die Einreise erlaube. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte bereits Ende August in einer internen „Leitlinie“ angekündigt, dass das „Dublin-Verfahren syrischer (und nur syrischer, d. Verf.) Staatsangehöriger zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitestgehend faktisch nicht weiterverfolgt“ würden.[12] Dänemark schloss am 9. September die Grenzen zu Deutschland, um Flüchtlinge an der Weiterreise nach Schweden zu hindern. Am 13. September nahm auch Deutschland die Ausnahmeregelung des Schengener Grenzkodex in Anspruch und begann die Binnengrenzen wieder zu kontrollieren. Die Maßnahme soll bis Februar 2016 verlängert werden.[13]

Ungarn schloss am 15. September das letzte Loch in seinem Grenzzaun zu Serbien. Im Oktober verlagerte sich die „Balkanroute“ definitiv nach Kroatien und Slowenien. Am 11. November schließlich begann auch Slowenien mit dem Bau eines Zauns an der kroatischen Grenze. Man wolle die Grenze nicht abriegeln, sondern die Wege der Flüchtlinge besser steuern, hieß es. Österreich scheint ähnliche Pläne zu verfolgen.[14]

Umsiedlung – die zweite

Seit September setzt die EU-Kommission alles daran, einen schnellen Weg zurück zu dem zu finden, was sie als europäische „Normalität“ ansieht. Das Europa ohne Binnengrenzen und die Freizügigkeit in der EU insgesamt seien nur möglich, wenn gleichzeitig die Außengrenzen gesichert würden, lautet das Konzept, das in leichten Variationen seit den Anfängen der Schengen-Kooperation in den 1980er Jahren wiederholt wird. Um zu diesem Zustand zurückzukehren, legte die Kommission Anfang September eine ganze Serie von „Mitteilungen“ vor.

Dazu gehörte zunächst ein zusätzliches zweites Umsiedlungsprogramm, mit dem weitere 120.000 Flüchtlinge von den am stärksten durch die „Flüchtlingskrise“ betroffenen Ländern in andere EU-Staaten umverteilt werden sollten.[15] Auf freiwillige Zusagen wollten sich dieses Mal weder die Kommission noch Deutschland einlassen. Sie bestanden auf einer nach dem Lissabonner Vertrag zwar möglichen, aber bei wichtigen Fragen unüblichen Abstimmung. Am 14. September genehmigte der Rat formell das erste und eine Woche später das zweite Programm. Ungarn, Tschechien und die Slowakei blieben bei ihrem Nein und wurden nun überstimmt.[16]

Auf der Tagesordnung steht ferner ein Vorschlag der Kommission zur Änderung der Dublin-Verordnung.[17] Verankern will sie damit einen „Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen“, den sie künftig selbstständig durch „delegierte Rechtsakte“ in Gang setzen kann, wenn sie aufgrund von Frontex- und EASO-Informationen der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat mit einem „großen und unverhältnismäßigen Zustrom von Drittstaatsangehörigen“ konfrontiert und nicht mehr in der Lage sei, seine üblichen Dublin-Verpflichtungen wahrzunehmen.

Die zwei Notfallprogramme waren zwar schnell beschlossen, die tatsächliche Umsiedlung begann aber nur äußerst zögerlich. Begleitet von einem großen Auftrieb von PolitikerInnen und Medienleuten wurden am 9. Oktober die ersten 19 Flüchtlinge von Italien nach Schweden ausgeflogen. Bis Mitte Dezember waren 232 von insgesamt 160.000 Personen umgesiedelt worden.[18] Grund für diese Langsamkeit sind die Vorbedingungen der „relocation“: Die Umsiedlungsstaaten mussten ihre Kontaktstellen, VerbindungsbeamtInnen und erste Kapazitäten benennen. Da aber nur Eurodac-registrierte und überprüfte Flüchtlinge umgesiedelt werden dürfen, müssen die entsprechenden „Hotspots“ und die „Teams zur Unterstützung der Migrationssteuerung“ aufgebaut werden. Für letzteres aber mussten die Mitgliedstaaten zusätzliches Personal an Frontex und EASO abstellen. Anfang November waren erst ein Hotspot auf Lampedusa und einer auf Lesbos in Betrieb. Bis Ende 2015 sollen es sechs in Italien und fünf in Griechenland sein.

In ihrem Lagebericht vom Oktober erinnerte die Kommission Griechenland und Italien daran, dass das Hotspot-Konzept nicht nur genügend Unterbringungskapazitäten für die auf andere Staaten umzuverteilenden Flüchtlinge voraussetze. „Erforderlich sind auch ausreichende Kapazitäten, um irreguläre Migranten vor Vollzug einer Rückkehrentscheidung in Gewahrsam nehmen zu können.“ Für deren „effektive Rück­kehr“ zu sorgen, gehöre zu den „Kernaufgaben der an den Brennpunkten zur Unterstützung der Migrationssteuerung eingesetzten Teams“.[19] In ihrem „Aktionsplan für die Rückkehr“, den der Rat im Oktober billigte, verkauft die Kommission die konsequente Abschiebung als zentralen Teil des EU-Asylsystems und als eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Die Mitgliedstaaten sollen insbesondere stärker auf koordinierte Abschiebungen und die Unterstützung durch Frontex zurückgreifen. Im Dezember präsentierte die Kommission einen Vorschlag für ein europäisches „Grenz- und Küstenschutzsystem“, mit dem das Mandat sowie die personellen und technischen Ressourcen von Frontex massiv erweitert werden. Die Agentur soll künftig auch ohne Zustimmung des betroffenen Mitgliedstaates Operationen vor dessen Küste durchführen und dafür innerhalb von nur drei Tagen 1.500 GrenzschützerInnen aus den anderen EU-Ländern aufbieten können.[20]

Diplomatische Offensive

Für die Kommission ist allerdings klar, dass ohne die Hilfe von Staaten jenseits der EU weder der „Schutz“ der Außengrenzen noch die „konsequente“ Abschiebepolitik möglich sind. Das war in den 1990er Jahren so, als Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zu Pufferstaaten gemacht wurden bzw. sich machen ließen. Das geschah in den 2000er Jahren, als die Staaten des Maghreb diese Rolle im Mittelmeerraum übernahmen. Die gegenwärtige „diplomatische Offensive“ richtet sich sowohl an die Transitländer als auch an die Herkunftsstaaten derjenigen, denen die EU keinen Schutz gewähren will. Die Ziele und Mittel sind weitgehend die gleichen wie in früheren Phasen: Von den „Partnern“ wird erwartet, dass sie Rückübernahmeabkommen mit der EU abschließen und diese auch einhalten. Dabei findet man durchaus klare Worte: „Die Mitgliedstaaten und die Kommission sollten sich abstimmen und in ihren Außenbeziehungen das rechte Maß an Druck und Anreizen einsetzen, damit mehr Menschen in ihre Herkunftsländer zurückkehren.“[21]

Zum anderen sollen die betreffenden Staaten dazu gebracht werden, dass sie ihre eigenen Grenzen besser kontrollieren – sowohl um den Transit von Flüchtlingen und MigrantInnen Richtung EU zu verhindern, als auch um die irreguläre Emigration der eigenen StaatsbürgerInnen zu verhindern. Dazu will die EU mit ihrer „Expertise“ helfen, die sie zum Beispiel durch Frontex, durch die EU-Delegationen vor Ort oder durch EU-MigrationsverbindungsbeamtInnen (EU Migration Liaison Officers, EMLR) vermitteln will. Noch 2015 hätten EMLR in 13 Staaten entsandt werden sollen – ein Plan, der sich so schnell nicht umsetzen ließ.[22] In den „Dialog-Prozessen“ der letzten Monate offeriert die EU einerseits sehr begrenzte legale Migrationsmöglichkeiten und winkt andererseits mit finanzieller Hilfe, die schon in der Vergangenheit immer dann locker saß, wenn es um die Abschottung der Außengrenzen ging.

Mit ihrer neuen Migrationsaußenpolitik kämpft die EU allerdings an verschiedensten Fronten: Mit den Staaten des Maghreb sowie West- und Zentralafrikas betreibt sie den (ursprünglich 2006 lancierten) Rabat-Prozess, mit denen auf der „Horn of Africa Migration Route“ startete sie im November 2014 den Khartoum-Prozess. Auf dem „Migrationsgipfel“ in Valetta am 11. und 12. November waren beide Seiten präsent. Gemeinsam mit ihren EU-KollegInnen durften die afrikanischen Staatschefs erklären, dass legale Migration gut und illegale schlecht sei. Die EU winkte mit einem Treuhandfonds von 1,8 Milliarden Euro, von denen aber erst 78,2 Mio. tatsächlich von den Mitgliedstaaten und den assoziierten Schengenländern fest zugesagt sind.[23] Die aktuell größte afrikanische Schwierigkeit der EU, nämlich die Tatsache, dass sich Libyen im Bürgerkrieg befindet und deshalb nicht in „Migrationspartnerschaften“ irgendwelcher Art eingebunden werden kann, bleibt aber ungelöst.

Serbien und Mazedonien benötigten jetzt „zweifelsfrei zweierlei Unterstützung“, schrieb die EU-Kommission im September: „Hilfe und Beratung beim Aufbau von Kapazitäten der Migrationssteuerung und Flüchtlingshilfe sowie sofortige Hilfe bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms auf ihrem Hoheitsgebiet.“ Insgesamt dürften beide Staaten bis Ende 2015 rund 100 Mio. Euro erhalten. Sämtliche Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien will die Kommission auf eine gemeinsame EU-Liste „sicherer Herkunftsstaaten“ setzen, die das EP und der Rat mit Dringlichkeit beraten und möglichst noch in diesem Jahr absegnen sollen.[24]

Zum „sicheren Drittstaat“ soll auch die Türkei erklärt werden – trotz des Krieges in Kurdistan, trotz der in den letzten Monaten verstärkten Repression und obwohl 2014 rund 23 Prozent der Asylgesuche türkischer StaatsbürgerInnen in der EU erfolgreich waren.[25] Die Türkei hat über zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, und wenn es nach der EU geht, soll der türkische Staat dafür sorgen, dass sie auch weiter in den Lagern bleiben und sich nicht auf den Weg Richtung EU begeben. In einem gemeinsamen Aktionsplan, den der Europäische Rat am 15. Oktober billigte, verspricht die EU, die Türkei 2015/2016 mit insgesamt drei Milliarden Euro bei der „Herausforderung“ zu unterstützen, die die Aufnahme von Geflüchteten darstelle. Die Türkei soll im Gegenzug die Geflüchteten registrieren und verspricht mehr Aktivitäten bei der Küstenüberwachung und mehr Zusammenarbeit mit Frontex.[26]

Ende eines Sommers

„Europa hat in den letzten Monaten entschlossen reagiert“, dürfe aber angesichts der fortdauernden „Flüchtlingskrise“ in seinen Anstrengungen nicht nachlassen. Solche und ähnliche Formeln finden sich seit September zuhauf in den Erklärungen der Kommission.[27] Von Solidarität und Verantwortung ist immer wieder die Rede.

Tatsächlich bewegten sich jedoch die EU und ihre Mitgliedstaaten seit April zwischen blankem nationalen Chauvinismus und krampfhaften Versuchen, die verlorene Normalität der dichten europäischen Außengrenzen wiederherzustellen – durch bürokratische, polizeiliche und selbst militärische Mittel. Solidarität war in erster Linie eine Sache der vielen freiwilligen HelferInnen.

Das sympathische „Wir schaffen das“ der Kanzlerin, das so viele Hoffnungen bei den Flüchtlingen selbst wie bei den HelferInnen und Solidaritätsgruppen geweckt hatte, wurde schnell verdrängt durch die Abschreckungsmaßnahmen der Regierung. Die Einführung der Kontrollen an den Binnengrenzen am 13. September war nur der erste Schritt. Drei Tage später gelangte der Entwurf eines „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes“ an die Öffentlichkeit, das dann durch Bundestag und Bundesrat gejagt wurde und nach rund sechs Wochen, am 24. Oktober, in Kraft trat.[28] Am 5. November einigten sich die Vorsitzenden der Koalitionsparteien auf ein weiteres Paket der Einschränkungen: Spezielle Erstaufnahmezentren für Asylsuchende aus „sicheren“ Herkunftsstaaten sollen entstehen, Abschiebungen nach Afghanistan verstärkt und der Familiennachzug für syrische Flüchtlinge weitgehend ausgesetzt werden.[29] Am 10. November wurde bekannt, dass Deutschland das Dublin-Verfahren auch für SyrerInnen wieder anwendet – und das bereits seit dem 21. Oktober.[30] In jedem einzelnen Fall wird wieder geprüft, ob die Rückschiebung in einen anderen EU-Staat möglich ist. Dafür könnte auch bald wieder Griechenland in Frage kommen. Für Griechenland hat die EU-Kommission nämlich im Oktober als Ziel formuliert: „Herstellung des Normalzustands und Ergreifen aller erforderlichen Maßnahmen, um die Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Verordnung innerhalb von sechs Monaten wieder in Kraft zu setzen“.[31]

Die „Flüchtlingskrise“, die eine Krise des europäischen Migrationsmanagements war und ist, soll ihr Ende haben und sich auch nicht wiederholen. Der europäische Normalzustand ist einer, bei dem Geflüchtete und MigrantInnen mit Gewalt und großem finanziellen Aufwand vor der Türen Europas oder allenfalls in den Staaten an der Außengrenze festgehalten werden. Das Schengener Märchen besagt, dass unter diesen Voraussetzungen die europäischen Binnengrenzen offen stünden.

Die „europäische Wertegemeinschaft“ hat sich selten so deutlich als verlogenes imperialistisches Konstrukt präsentiert wie in den letzten acht Monaten.

[1]      S. die Bilanz, die AktivistInnen aus diversen Solidaritätsgruppen im August 2014 zogen: http://afrique-europe-interact.net/1193-0-Mare-Nostrum.html
[2]     EU-Kommission: Presseerklärung IP 15/4813 v. 20.4.2015
[3]     Europäischer Rat: Außerordentliche Tagung v. 23.4.2015, Erklärung 204/15
[4]     Com (2015) 240 final v. 13.5.2015
[5]     siehe die Beiträge von Christoph Marischka, S. 20, und Matthias Monroy, S. 27
[6]     Cocchi, N.: „Notstand“ in Italien, in: Solidarité sans frontières: Bulletin 2015, H. 1, S. 6f.
[7]     EU-Kommission: SWD (2015) 150 final v. 27.5.2015, Ratsdok. 11013/15 v. 17.7.2015
[8]     COM (2015) 286 final v. 27.5.2015
[9]     Zeit.de v. 20.7.2015
[10]   Mediapart v. 1.10.2015
[11]    zum Überblick s. z.B. www.spiegel.de/thema/flucht_nach_europa/archiv.html
[12]   Proasyl.de v. 26.8.2015
[13]   AFP-Meldung v. 13.11.2015
[14]   Tagesschau.de v. 11.11.2015
[15]   Neben Italien und Griechenland sollte nach dem Kommissionsvorschlag auch Ungarn durch die Umverteilung entlastet werden. Die ungarische Regierung lehnte dies aber ab; Com (2015) 451 final v. 9.9.2015.
[16]   Ratsdok. 11161/15 v. 3.9.2015 und 12098/15 v. 22.9.2015; sueddeutsche.de v. 23.9.2015
[17]   Com (2015) 450 final v. 9.9.2015
[18]   zeit-online v. 9.10.2015; NZZ am Sonntag v. 21.12.2015
[19]   Com (2015) 510 final v. 14.10.2015, S. 6 und 8
[20]  Com (2015) 671 final v. 15.12.2015
[21]   Com (2015) 510 v. 14.10.2015, S. 8
[22]   Ägypten, Marokko, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal, Pakistan, Serbien, Äthiopien, Tunesien, Sudan, Jordanien, Türkei; siehe Schlussfolgerungen des Rates, Pressemitteilung 711/15 v. 8.10.2015
[23]   s. European Commission: The European Union’s cooperation with Africa on migration, Memo/15/6026 v. 9.11.2015; zur politischen Erklärung und zum Aktionsplan des Valetta-Gipfels s. Presseerklärung des Rates 809/15 v. 12.11.2015
[24]   Com (2015) 452 final v. 9.9.2015
[25]   ebd., S. 7
[26]   EU Commission: Draft action plan. Stepping up EU-Turkey cooperation, Fact Sheet, Memo 15/5777 v. 6.10.2015
[27]   zum Beispiel COM (2015) 490 final v. 23.9.2015, S. 4
[28]   proasyl.de v. 17.9.2015, BT-Drs. 18/6185 v. 29.9.2015;
[29]   Beschluss der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD v. 5.11.2015; proasyl.de v. 6.11.2015
[30] proasyl.de v. 12.11.2015
[31]   Com (2015) 490 final v. 23.9.2015, S. 14

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