Erklärung zur polizeilichen Unterwanderung sozialer Bewegungen in Barcelona

88 Organisationen erklären ihre Unterstützung für die fünf Aktivistinnen, die wegen der Unterwanderung sozialer und gewerkschaftlicher Bewegungen durch einen Polizeibeamten des spanischen Nationalen Polizeikorps in Barcelona vor Gericht gehen. Der verdeckte Ermittler nutzte intime, sexuelle Beziehungen, um ein Vertrauensverhältnis zu diesen Bewegungen aufzubauen und zu festigen. Seine Handlungen wurden vom restlichen Polizeiapparat gebilligt und unterstützt. Seine Tätigkeit wurde dank einer Untersuchung der Zeitung La Directa von Mai 2020 bis Oktober 2022 dokumentiert.

Am 31. Januar 2023 haben fünf der von dem Polizeieinsatz betroffenen Aktivistinnen, Menschenrechtsverteidiger und Gewerkschafter eine Strafanzeige gegen den Polizeibeamten gestellt, und zwar wegen systematischen sexuellen Missbrauchs, Folter und Verstößen gegen die moralische Integrität, der Aufdeckung und Weitergabe von Geheimnissen sowie der Einschränkung ihrer Bürgerrechte, einschließlich der Verletzung der Vereinigungsfreiheit. Die Strafanzeige, die auch gegen die Vorgesetzten des Polizeibeamten gerichtet ist, stützt sich auf die rechtliche Unterstützung von Irídia – Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte und der Gewerkschaft CGT.

In Anbetracht der Schwere dieser Verstöße erklären die unterzeichnenden Organisationen und Kollektive, dass:

1. In dem vorliegenden Fall offenbart der Polizeieinsatz eine eindeutige geschlechtsspezifische Diskriminierung, die zwei Ziele verfolgt. Erstens, um Informationen zu erlangen und die Zivilgesellschaft und die Organisation der verschiedenen sozialen Bewegungen in Barcelona zu manipulieren. Zweitens, um Frauen zu bestrafen, die sich in solchen Kollektiven und Kämpfen engagieren.

2. Die Nutzung intimer, sexueller Beziehungen zum Zwecke der staatlichen Spionage ergibt sich aus dem Sexismus in der Polizei und der institutionellen Gewalt, die derzeit in Spanien herrscht. In diesem Fall handelt es sich bei der sexuellen Gewalt um institutionelle Gewalt, da die Handlungen von einem Polizeibeamten in Ausübung seiner Pflichten begangen wurden, die von der institutionellen Struktur, der er angehört, genehmigt, gebilligt und erlaubt wurden.

3. Derartige Polizeieinsätze sind in jeder Demokratie unnötig und nicht zu rechtfertigen und untergraben den Rechtsstaat, da sie die Anwendung von Taktiken fördern, die auf die Verfolgung politisch Andersdenkender und Menschenrechtsaktivisten abzielen und den Raum für die Zivilgesellschaft und ihre Fähigkeit, sich zu organisieren, verringern.

4. Obwohl wir wissen, dass die staatliche Überwachung in Spanien gegenwärtig eine Realität ist (durch den Einsatz von Programmen wie Pegasus und die Entdeckung von zwei weiteren infiltrierten Polizeibeamten, die von La Directa am 7. Juni 2022 und am 13. Februar 2023 aufgedeckt wurden), stellt dieser Fall aufgrund des Ausmaßes der Beeinträchtigung individueller und kollektiver Rechte und der Auswirkungen auf die direkt betroffenen Personen und die Bewegungen selbst eine erhebliche Eskalation dar.

5. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Obwohl diese Form der Informationsbeschaffung als ein außergewöhnliches Mittel betrachtet werden sollte, das sehr strengen und spezifischen Bedingungen unterliegt, ist die Einschleusung von Polizeibeamten in soziale und politische Bewegungen eine Praxis, die auch in anderen Ländern angewandt wurde. Besonders erwähnenswert ist der Präzedenzfall im Vereinigten Königreich, wo das Investigatory Powers Tribunal im Jahr 2021 zu dem Schluss kam, dass der Einsatz von Mark Kennedy, einem verdeckten Ermittler, der Beziehungen zu mehreren Frauen hatte, von denen eine mehr als sechs Jahre dauerte, gegen fünf grundlegende Menschenrechte verstieß: das Verbot von Folter und/oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, das Recht auf ein Privat- und Familienleben, die Meinungsfreiheit, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Verbot der Diskriminierung, in diesem Fall aufgrund des Geschlechts.

6. Diese Vorfälle zeigen, dass alle Bürger*innen und Vereinigungen Gefahr laufen, Opfer dieser willkürlichen und missbräuchlichen Verstöße zu werden. Der Einsatz solcher Maßnahmen schüchtert die Bürger*innen ein und beschränkt den politischen Spielraum der Zivilgesellschaft erheblich. Wie im Vereinigten Königreich sollte dieser Fall eine öffentliche Debatte über die Grenzen und die Kontrolle der Polizeiarbeit in einem Rechtsstaat und einer Demokratie auslösen.

Die unterzeichnenden Organisationen stellen fest, dass der spanische Staat eine Grenze bei der Verletzung von Grundrechten überschritten hat, indem er intime und sexuelle Beziehungen zur Überwachung politisch Andersdenkender ausnutzte. Es ist wichtig, diese Art von Polizeistrategie, die Teil einer staatlichen Politik ist, sowie die spezifische geschlechtsspezifische Gewalt, die sie mit sich bringt, aufzudecken, zu benennen und in Frage zu stellen, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu fordern und vor allem zu verhindern, dass sich solche Ereignisse wiederholen.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Völkerrecht den Staaten die Pflicht auferlegt, wirksame und gründliche Ermittlungen durchzuführen, um ihren Verpflichtungen gegenüber den Opfern und auch gegenüber der Gesellschaft nachzukommen, indem sie verpflichtet werden, künftige Verletzungen zu verhindern und Maßnahmen gegen die schwersten Menschenrechtsverletzungen zu ergreifen.

Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit stellte bei seiner Kontrollmission im Vereinigten Königreich im Jahr 2017 fest, dass solche Operationen tiefgreifenden und nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten können, sowohl „für die Überlebenden als auch für das Wohlergehen der allgemeinen Bevölkerung in Bezug auf die freie Ausübung des Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, angesichts des erhöhten Maßes an Misstrauen“, das sich aus der öffentlichen Aufmerksamkeit für den Fall ergibt. Er stellte fest, dass in diesen Fällen „der Schaden nur teilweise durch einen Prozess echter und transparenter Rechenschaftspflicht für die Betroffenen sowie durch Wiedergutmachung behoben werden kann“.

In Anbetracht dessen rufen die 88 unterzeichnenden Organisationen Spanien dazu auf:

  • Angesichts der Schwere des Falles die Verantwortung zu übernehmen und mit Konsequenzen für die Täter zu reagieren, indem diese Straftaten mit angemessenen Strafen geahndet werden, die der Schwere der Straftaten Rechnung tragen; und ihrer Pflicht nachzukommen, eine öffentliche Erklärung des Sachverhalts abzugeben.
  • Ihrer Verpflichtung nachzukommen, eine gründliche, wirksame und unabhängige Untersuchung durchzuführen, mit dem Ziel, das Ausmaß des Einsatzes offenzulegen, und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine wirksame Wiedergutmachung für die betroffenen Personen und Bewegungen zu gewährleisten.
  • Sofort alle weiteren Polizeioperationen ähnlicher Art einzustellen und die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass sie sich nicht wiederholen.

Organisationen, die diese Erklärung unterstützen:

1. Abolish Frontex
2. Alianza por la Justicia Global
3. Alianza por un mejor Darién – AMEDAR from Panamá
4. Alternativa de Reivindicación Comunitaria y Ambientalista de Hounduras (ARCAH)
5. Associació Catalana per a la Defensa dels Drets Humans (ACDDH)
6. Big Brother Watch
7. Bürgerrechte & Polizei / CILIP
8. Calala Fondo Mujeres
9. Campaign Against Arms Trade
10. Campaña Defender la Libertad: Asunto de todxs
11. Campaña Popular Palestina contra el Muro de Apartheid – Stop the Wall
12. Centre Delàs d’Estudis per la Pau
13. Centro de Atención en Derechos Humanos a la Mujer y el Menor Indígena (CADHMMI) from México
14. Centro de Estudios Legales y Sociales CELS
15. Centro Regional Indígena en Derechos Humanos “Ñuu-Savi” (CERIDH) from México
16. CGT, Confederació General del Trabajo
17. CIVICUS
18. Civil Liberties Union for Europe – Liberties (19 members)
19. Coalición de la Defensa de la Tierra Palestina Unión Palestina Campesina
20. Colectivo Insurrección Visual from México
21. Colectivo Reexistencia Creativa from México
22. Colombianas y Colombianos por la Paz
23. Comisión Multisectorial from Uruguay
24. Comité de Defensa de los Derechos del Pueblo de Oaxaca (CODEPO) from México
25. Comité de Defensa de los Derechos Humanos de la Mujer (CODEM) from México
26. Comité de Justicia por Keyla Patricia Martínez from Honduras
27. Comité Permanente por la Defensa de los Derechos Humanos (DPDH)
28. Comité Universitario de Solidaridad con el Pueblo Palestino (CUSPPA)
29. Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos (CSUTCB) from Bolivia
30. CooperAcció
31. Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora – CRBZ from Venezuela
32. Defender a Quien Defiende (9 members)
33. Derechos Humanos y Derecho Internacional Huminanitario from Colombia
34. Digital Freedom Fund
35. Digitalcourage from Germany
36. End Deportations Belfast
37. EuroMed Rights (60 members)
38. European Civic Forum (49 members)
39. European Group For Studying Deviance and Social Control
40. FACQ Berlin
41. Fair Trials
42. Federación de Mujeres del CUSCO – Micaela Bastidas Puiucagua from Perú
43. Frente de Organizaciones Sociales de Chiapas (OPEZ – FOSICH)
44. Frente de Pueblos en Defensa del Mejoramiento Barrial de la Ciudad de México – Centro Cultural Las Jarillas
45. Front Line Defenders
46. Fundación Comité de Solidaridad con los Presos Políticos (CSPP) from Colombia
47. Gentium
48. Granada Visible
49. Grupo FIST Mujeres Migrantes Internacionalistas Solidarias en Zurich
50. Institut de Drets Humans de Catalunya (IDHC)
51. Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz (INDEPAZ)
52. Instituto Mexicano de Desarrollo Comunitario (IMDEC) from México
53. Irídia – Centre per la Defensa dels Drets Humans
54. LaFede.cat – Organitzacions per a la Justícia Global (124 members)
55. Movimiento Alfa y Omega from Perú
56. Movimiento Cultural Campesino Los Arangues from Venezuela
57. Movimiento de Favelas de Rio Janeiro
58. Movimiento Internacional de la Economía de los Trabajadores from Venezuela
59. Novact – Institut Internacional per l’Acció Noviolenta
60. Observatori DESC
61. Observatorio de Derechos Humanos Capítulo EU
62. Observatorio de Derechos Humanos Capítulo Suiza
63. Observatorio de Derechos Humanos de los Pueblos (DHP)
64. Observatorio de la violencia policial from Chile
65. Observatorio de Paz de Colombia
66. Observatorio para el Cierre de la Escuela de las Américas from Chile
67. ObsPol Observatoire des violences policières
68. OMCT – Organización Mundial Contra la Tortura (200 members)
69. Patronato Pro Defensa y Conservación del Patrimonio Cultural y Natural de Oaxaca (PRO – OAX)
70. Police Spies Out of Lives
71. Programa Compañeros de A.C. de Ciudad Juáles Chihuahua México
72. Radio Lora Zurich
73. Red de Colectivas La Araña Feminista from Venezuela
74. Red de Integración Orgánica – Rio – Por la Defensa de la Madre Tierra y los Derechos Humanos de Guatemala
75. Red Global contra la Violencia Policial (20 members)
76. Red por la Defensa de la Infacia Mapuche
77. SOA Watch – Observatorio por el Cierre de las Escuelas de las Américas
78. Soldepaz – Pachakuti
79. StateWatch
80. Stop Represión Granada
81. Stop Wapenhandel (Dutch campaign against arms trade)
82. Sur Occidente Colombiano Antonieta Mércury de Colombia
83. Temblores
84. The Campaign Opposing Police Surveillance
85. The Network for Police Monitoring
86. The Undercover Research Group
87. Transnational Institute, The Netherlands
88. Unión de Organizaciones Sociales Interculturales del Sur de Pichincha (UOSISP) from Ecuador

Übersetzung aus dem Englischen: CILIP.

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