Weiter wie gehabt? Forderungen an Polizei und Justiz nach dem NSU-Debakel

von Heike Kleffner

Mehr Geld, neue Datensysteme und mehr Macht für die Geheimdienste sind die falsche Antwort auf das Staatsversagen beim Vorgehen gegen den NSU. Stattdessen braucht es dringend effektive Veränderungen, die das Vertrauen von Minderheiten in Polizei und Strafverfolgung stärken.

Wer in diesen Tagen die Auftritte von Polizisten und Verfassungsschützern vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verfolgt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere die mittlere Ebene der Geheimdienste mehrheitlich diese „schwere Niederlage der Sicherheitsbehörden“[1] lediglich als einen Betriebsunfall betrachtet. Die Logik derer, die jegliche Verantwortung für das Staatsversagen im NSU-Komplex zurückweisen, ist simpel: „Wir hatten in all den Jahren keinerlei Hinweise auf Rechtsterrorismus“, erklärten unisono die Repräsentanten von Bundesamt und Landesämtern für Verfassungsschutz. „Es gab ja keine Bekennerschreiben“, meinten auch die Vertreter des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter. „Der Verfassungsschutz hat uns keine Informationen gegeben“, sagten die Beamten der Besonderen Aufbauorganisation „Trio“ beim Polizeipräsidium Nürnberg und der Ermittlungsgruppe Sprengstoff beim Polizeipräsidium Köln. Aussagen wie diese zementieren in der Öffentlichkeit das Selbstbild von engagierten, aber komplett ahnungslosen Strafverfolgern und Geheimdienstlern, die von perfiden, strategisch wie technisch besonders versierten Neonazis hinters Licht geführt worden seien.

Dahinter verbirgt sich – mehr oder weniger subtil, trotzig oder beleidigt in den Zeugenständen von mittlerweile vier parlamentarischen Untersuchungsausschüssen vorgetragen – eine wichtige Botschaft: Weil wir die Existenz rechtsterroristischer und militanter neonazistischer Strukturen seit der deutschen Wiedervereinigung immer geleugnet haben, durfte und konnte es sie eigentlich auch gar nicht geben – unabhängig davon, wie viele Hinweise es darauf aus dem eigenen Apparat, aus „Quellenmeldungen“, aus Berichten von Polizeibeamten und vor allem aus unabhängigen antifaschistischen Medien gab. Geradezu klassisch ist die Einschätzung von Geheimdiensten wie Polizei aus den frühen 2000er Jahren, die der ehemalige Referatsleiter Rechtsextremismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vor dem Untersuchungsausschuss erneut vortrug: Es habe eine „Reihe von Hinweisen (gegeben), dass Einzelpersonen oder Gruppen sich Waffen oder Sprengstoff bzw. Materialien, die zum Bau von Sprengkörpern geeignet sind, beschafft“ hätten. Doch über die Motivation hätten „selten gesicherte Erkenntnisse“ vorgelegen. Oft „dürften die besondere Affinität von Rechtsextremisten zu Waffen o.ä., aber auch finanzielle Aspekte eine Rolle“ gespielt haben. Anzeichen für einen „geplanten Einsatz von Waffen oder Sprengstoff“ seien nicht ersichtlich gewesen.[2] Dabei wurden in der Neonaziszene seinerzeit Konzepte zum bewaffneten, „führerlosen“ Widerstand in kleinen Zellen breit diskutiert und die Polizei stellte bei Razzien sowohl in West- als auch in Ostdeutschland nahezu wöchentlich beeindruckende Waffenarsenale sicher.

Die rassistische Mord-, Sprengstoff- und Bankraubserie des NSU als Betriebsunfall eines ansonsten hoch professionell arbeitenden Strafverfolgungs- und Geheimdienstapparats: dieses offenbar weit verbreitete Selbstbild der Säulen der deutschen „Sicherheitsarchitektur“ lässt bei Polizei- und Verfassungsschutzvertretern die Bereitschaft, kritische Fragen zu beantworten oder gar ernsthafte Reformen anzugehen, rapide sinken. Kein Wunder, denn auch die politischen Antworten, die sowohl die regierende CDU/FDP-Koalition als auch weite Teile der SPD geben, können nicht nur als ein freundliches „weiter so“ verstanden werden, sondern bedeuten de facto einen realen Macht- und Ressourcenzuwachs für das Bundesamt für Verfassungsschutz. Mit den Rücktritten von BfV-Präsident Heinz Fromm und seiner KollegInnen bei den Landesämtern von Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin scheint das Soll an politischen Konsequenzen erfüllt. Ohne auch nur einmal öffentlich dargelegt zu haben, welche Schlussfolgerungen aus dem kompletten Versagen von Auswertern, Beschaffern und Analysten zu ziehen seien, wird das Bundesamt unter seinem neuen Chef Georg Maaßen mit einem Nettozuwachs seines Haushalts von knapp 17 Euro Millionen Euro im kommenden Jahr belohnt. Zudem fordert auch die SPD, dass das Bundesamt eine zentrale, bundesweite V-Mann-Datei führen solle.[3]

Bereits im Dezember 2011, einen Monat nach dem Auffliegen des NSU, konnten Polizei und Geheimdienste ihr „Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus“ (GAR) eröffnen, und auch die Verbunddatei über gewaltbereite Rechtsextremisten ist inzwischen in Betrieb. Schon jetzt ist klar: Das Abwehrzentrum hat nichts dazu beigetragen, dass „dieser unerträgliche Zustand, dass wir täglich zwei bis drei rechte Gewalttaten in Deutschland haben“ (so BKA-Präsident Jörg Ziercke vor dem Ausschuss), sich verändert hätte. Im Gegenteil: Das Selbstbewusstsein und die Militanz der Neonazibewegung sind ungebrochen. Und, noch viel zentraler: Wenn man davon ausgehen muss, dass die NSU-Morde ermöglicht wurden durch die – auch in anderen Fällen – tödliche Mischung aus Ignoranz, Inkompetenz, Vertuschung und Verharmlosung militanter neonazistischer Strukturen seitens Polizei, Geheimdiensten und Justiz, dann ist seit dem 4. November 2011 alles beim Alten geblieben – allen großspurigen Beteuerungen führender Innenpolitiker zum Trotz.

Rassistische Gewalt – alles beim Alten

Ein Blick in die Chroniken der spezialisierten, unabhängigen Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in den neuen Bundesländern und Berlin sowie in diverse Medienberichte offenbart nicht nur die tägliche Dimension rechter Gewalt, sondern ein Besorgnis erregend hohes Maß an beharrlichem Leugnen, Vertuschen und Verharmlosen politisch rechter oder rassistischer Tatmotive durch Polizei und Justiz sowie eine mangelnde Bereitschaft, die ganz normalen Instrumente der Strafverfolgung auch bei rassistischen und rechten Gewalttätern adäquat anzuwenden. Einige Beispiele von vielen:

  • Mitte Oktober 2012 belagerte eine Gruppe von mehr als einem Dutzend Neonazis die in einem Plattenbauviertel von Hoyerswerda (Sachsen) gelegene Wohnung eines jungen Paares, das die Neonazis durch sein Engagement gegen NPD-Aufkleber in der Stadt als „politische Gegner“ ansehen. Als das Paar per Notruf die Polizei in Bautzen verständigte, wurden zwar nach und nach sechs Beamte vor Ort geschickt: Doch die Drohungen – u.a. wurde der jungen Frau mit Vergewaltigung gedroht – und Beschimpfungen hörten auch in Anwesenheit der Beamten nicht auf. Weil die Polizisten darauf verzichteten, die Personalien der Neonazis festzustellen, blieb die Gruppe anonym und verließ den Tatort unbehelligt von jedweden polizeilichen Maßnahmen. Am nächsten Tag, sagen die Betroffenen, sei ihnen von der zuständigen Polizeiwache Hoyerswerda geraten worden, die Stadt zu verlassen. Ein Sprecher der Polizeidirektion Bautzen rechtfertigte dies gegenüber Journalisten des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) mit dem Hinweis, es sei einfacher, wenn zwei Leute die Stadt verlassen würden, als wenn die Polizei eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Neonazis überwachen müsse.[4] Der Alltag in Hoyerswerda ist mittlerweile seit zwei Jahrzehnten von einer Kultur der Straflosigkeit für rechte und rassistische Gewalttäter geprägt – entsprechend selbstbewusst agiert die Neonaziszene hier. Eine dringend notwendige Binnenrevision polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Maßnahmen gegen Neonazis ist bislang unterblieben.[5]
  • Auch im Nachbarland Sachsen-Anhalt fällt die Bilanz der Strafverfolgung nach rassistischen und rechten Gewalttaten im Jahr 1 nach dem NSU sehr gemischt aus. Eklatant ist das Versagen der zuständigen Staatsanwaltschaft Halle (Saale) im Fall eines schweren rassistischen Angriffs am 29. April 2012 in Lutherstadt Eisleben. Drei bis vier mit Schlagwaffen ausgerüstete Rechte waren auf der „Eisleber Frühlingswiese“ auf zwei palästinensische bzw. kurdische Familien losgegangen. Der Hauptbetroffene, ein 32-jähriger Palästinenser, war gerade mit seiner Verlobten und ihren Eltern sowie einer befreundeten Familie, darunter drei Kinder im Alter von zwei, sieben und zwölf Jahren, auf dem Fest angekommen, als er plötzlich die Worte „Das habt ihr nun davon, ihr Ausländer“ hörte und von hinten so massiv auf den Kopf geschlagen wurde, dass er zu Boden ging. Weitere augenscheinlich Rechte kamen hinzu und schlugen u.a. mit einem Teleskopschlagstock und einem Bierglas immer wieder gezielt auf den Kopf des Palästinensers ein. Als sie dem Verletzten helfen wollten, wurden auch sein 42-jähriger Schwiegervater, dessen Freund und seine Ehefrau sowie seine Schwiegermutter angegriffen. Letztere wurde mehrfach so heftig mit dem Kopf auf den Fußboden geschlagen, dass sie das Bewusstsein verlor. Ein Zeuge, der ihr zu Hilfe eilt, wurde ebenfalls geschlagen. Ein Angreifer malträtierte die 22-jährige Verlobte noch mit Fußtritten, als sie bereits am Boden lag. Der 32-jährige Palästinenser musste schließlich wegen seiner schweren Kopfverletzungen per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen und stationär behandelt werden. Da es dem Schwiegervater gelungen war, den Hauptangreifer einzuholen und bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten, schien in diesem Fall zumindest eine Strafverfolgung möglich. Tatsächlich nahmen Polizeibeamte den 18-jährigen Neonazi, der zum Tatzeitpunkt unter Bewährung stand, wegen versuchten Totschlags fest. Die Staatsanwaltschaft Halle wertete den bewaffneten Angriff und die gezielten Schläge auf den Kopf des Hauptbetroffenen jedoch bloß als gefährliche Körperverletzung und lehnte es ab, Haftbefehle zu beantragen: Der einschlägig vorbestrafte Haupttäter und seine ebenfalls vorbestraften Mittäter befinden sich alle auf freiem Fuß. Die teils erheblich traumatisierten Betroffenen haben aus Angst vor weiteren Angriffen ihre Arbeitsplätze und Wohnungen in Eisleben verlassen und sind in andere Bundesländer umgezogen.

Nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in Bremen wird die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach Brandstiftungen auf bewohnte Häuser als versuchte bzw. vollendete Tötungsdelikte gelten, ignoriert: Hier hatte in der Nacht zum 29. Juli 2012 eine Gruppe von mindestens vier Personen einen Brandanschlag auf das Haus der türkischstämmigen Familie C. verübt. Die AngreiferInnen hatten in den frühen Morgenstunden die Tür des Wohnhauses zerschlagen, ein mit einer brennbaren Flüssigkeit getränktes T-Shirt angezündet und vor die Haustür geworfen und dazu Parolen wie „Ausländer raus“ gerufen.[6] Zwar nahm die Polizei drei Männer und eine Frau aus der unmittelbaren Nachbarschaft vorläufig in Gewahrsam, doch nach einem Alkohol- Bluttest kamen alle Tatverdächtigen am frühen Morgen wieder frei. „Wir haben gefragt, ob die Polizei noch ein bisschen da bleibt. Wir hatten Angst, die waren doch noch betrunken“, berichtete Fatih C. gegenüber der taz Nord. „Aber die haben nur gesagt: ,Stellt doch einfach einen Eimer Wasser neben die Tür.‘“ Der taz sagte die Polizei, sie nehme den Vorfall sehr ernst und fahre in der Gegend nun öfter Streife. Allerdings ermittelt die Polizei lediglich wegen versuchter schwerer Brandstiftung; die Öffentlichkeit erfuhr von dem Vorfall auch erst, nachdem ein Anwalt der betroffenen Familie eine Bremer Tageszeitung informierte. In Stellungnahmen sprach die Polizei daraufhin von einer Mischung aus Nachbarschaftsstreit und ausländerfeindlichen Motiven. Sie machte sich so in klassischer Schuldumkehr einen Teil der Argumentation der Tatverdächtigen und der mehrheitlich weißen deutschen Nachbarschaft zueigen, die nach der Tat gegenüber Medienvertretern Familie C. vorwarf, sie würde viel Lärm machen und habe kriminelle Kinder.

Geblieben ist nach dem 4. November 2011 aber auch das Problem rassistisch motivierter Polizeigewalt: Am 17. Oktober 2012 erstattete ein Informatiker äthiopischer Herkunft Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch, Beleidigung und Körperverletzung im Amt gegen vier Polizisten. Der Mann hatte bei einem Polizeieinsatz im Anschluss an eine Fahrkartenkontrolle in der Frankfurter U-Bahn u.a. eine Gehirnerschütterung mit Bewusstlosigkeit und multiple Prellungen erlitten und berichtete über rassistische Beschimpfungen seitens der Kontrolleure und Polizeibeamten.[7]

Was jetzt tatsächlich gebraucht würde

An Stelle von vollmundigen Sonntagsreden, erweiterten Befugnissen für Geheimdienste und Anti-Terror-Dateien mit fragwürdigem Praxisnutzen wäre im Gegenteil die sofortige Abschaffung der aktuell existierenden Verfassungsschutzämter und ihrer V-Leute Praxis notwendig.[8] Dringend erforderlich sind aber auch Maßnahmen in Bezug auf Polizei und Strafverfolgungsbehörden. In ihrem Beitrag für die „Berliner Zustände 2011“ schreibt Kati Lang, Projektleiterin der Opferberatung der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) in Sachsen:[9] In der Polizei herrsche eine „Ablehnungskultur“ gegenüber Minderheiten, was dazu führe, dass sie nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems angesehen werde: „Alltag für viele Menschen, die nicht der ‚gängigen Norm‘ von weiß, heterosexuell, sozial erwarteter Attitüde oder vermeintlich ‚deutschem‘ Aussehen und Auftreten entsprechen, ist nicht nur die Bedrohung durch rechte Gewalt, sondern auch die Furcht vor rassistischen Polizeikontrollen, Vertreibung aus Innenstadtvierteln durch BeamtInnen oder homophobe Sprüche auf der Wache bei Anzeige von schwulenfeindlichen Straftaten.“

Das Problem, dessen Teil die Polizei und Strafverfolgungsbehörden sind, ist offensichtlich ein Doppeltes: Zum einen geht es um den Umgang mit und die Wahrnehmung von Minderheiten, oder klarer: um den institutionellen Rassismus:

  • Ein grundsätzlicher Mentalitätswandel ist erforderlich: MigrantInnen oder Menschen nicht-weißer Hautfarbe dürfen nicht länger unter permanenten Generalverdacht gestellt, sondern müssen als gleichberechtigte BürgerInnen und BewohnerInnen Deutschlands gesehen und behandelt werden, für die die Unschuldsvermutung ebenso gilt wie für alle anderen in Deutschland aufhältlichen Personen.
  • Eine unabhängige wissenschaftliche Studie muss der Frage nachgehen, inwieweit rassistische Vorurteile und andere minderheitenfeindliche Einstellungen im Polizei- und Geheimdienstapparat verbreitet sind. Explizit ist dabei die Wirksamkeit bislang praktizierter Modellprojekte zur Senkung von Rassismus innerhalb der Polizei zu untersuchen.
  • Rassismus ist aber nicht nur eine Frage der Einstellung, sondern auch eine der Praxis: Es braucht ein gesetzlich verankertes Verbot des „Racial Profiling“, mit der Menschen realer oder vermeintlich nichtdeutscher Herkunft bei so genannten verdachtsunabhängigen Kontrollen stigmatisiert und unter Dauerverdacht gestellt werden. Auch wenn man davon ausgehen sollte, dass diese Praxis unter das grundgesetzlich verankerte Diskriminierungsverbot fallen müsste, ist das Gegenteil der Fall. Notwendig wäre hier, die internationalen Erfahrungen insbesondere aus den USA, Großbritannien und Kanada aufzunehmen und die polizeiliche Kontrollpraxis grundsätzlich zu verändern. In einzelnen Distrikten Kanadas müssen Polizeibeamte bei jeder Kontrolle einen Prüfbogen ausfüllen, in dem der Grund für die Kontrolle angegeben wird. In Frankreich wird darüber diskutiert, Polizisten zur Abgabe von Kontrollquittungen zu verpflichten.
  • Unabhängige Polizeibeschwerdestellen für alle Bundesländer und den Bund, die in mehrsprachigen Angeboten und mit entsprechender personeller Ausstattung bekannt gemacht werden und an die sich alle diejenigen unabhängig von Aufenthaltstatus und Herkunft wenden können, die polizeiliches Fehlverhalten melden möchten und Hilfe und Unterstützung dabei suchen. Ähnlich wie die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sollten die jeweiligen Polizeibeschwerdestellen unabhängig und als kritische Kontrollinstanzen arbeiten können.
  • Zum andern geht es um die Frage, wie Polizei- und Strafverfolgungsbehörden die betroffenen Minderheiten schützen (können). Schon jetzt kann nur vermutet werden, wie flächendeckend rechte und rassistische Gewalt tatsächlich den Alltag vieler Menschen in Ost-, aber auch in Westdeutschland bestimmt. Offiziellen Statistiken des Bundeskriminalamts zufolge ereignen sich täglich mindestens zwei politisch rechte Gewalttaten in Deutschland – ein Drittel dieser Angriffe ist rassistisch motiviert.[10] Unabhängige Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt in Ostdeutschland und Berlin gehen allerdings von einer wesentlich höheren Zahl aus.
  • Nach wie vor ergibt sich regelmäßig zwischen den durch die Landeskriminalämter im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) erfassten rassistisch, politisch rechts und antisemitisch motivierten Gewalttaten und den Zahlen der Opferberatungsstellen eine massive Differenz: Rund ein Drittel der ihnen gemeldeten Fälle werden von den Landeskriminalämtern nicht als politisch rechts motiviert gewertet. Diese Differenz ist bei weitem nicht dadurch erklärlich, dass manche Betroffene aus Angst vor der Rache der Täter, aber auch Angst davor, von der Polizei nicht ernst genommen oder erneut rassistisch stigmatisiert zu werden, auf eine Anzeige verzichten und die erlebte Gewalt lediglich den Beratungsstellen melden. Die polizeiinternen Auswertungen müssen offengelegt und überprüft werden. Eine Überprüfung der praktischen Anwendung der PMK-Kriterien durch die jeweiligen Polizeireviere wäre auch deshalb dringend notwendig, weil die Ersteinschätzung durch die aufnehmenden Beamten für die weitere Bearbeitung und Bewertung einer Gewalttat entscheidend ist. Zudem sollte es auch im Interesse der Strafverfolgungsbehörden sein, ein realistischeres Bild vom Ausmaß rechter Gewalt zu erhalten, als dies bislang der Fall ist. Insbesondere dort, wo es gar keine unabhängigen Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt gibt oder keine flächendeckenden, muss davon ausgegangen werden, dass die offiziellen Zahlen der Behörden lediglich einen kleinen Ausschnitt der Realität widerspiegeln.
  • Die Kultur der Täter-Opfer-Schuldumkehr, bei der die Opfer rassistischer Gewalt für Gewalttaten und Diskriminierung, die sie erleiden, mitverantwortlich gemacht werden, muss ein Ende finden. Es darf nicht sein, dass Polizeibeamte vor Ort sich zuerst um den Aufenthaltsstatus der Opfer kümmern, bevor sie die Personalien der Angreifer feststellen (oder dies gleich ganz unterlassen). In der Praxis wird so häufig eine Strafverfolgung hintertrieben, und die Opfer rassistischer Gewalt werden einer doppelten Demütigung ausgesetzt.
  • Es braucht eine Gesetzesänderung analog den gesetzlichen Regelungen in Großbritannien und den USA, wonach bei Gewalttaten gegen Betroffene realer oder vermeintlich nicht-deutscher Herkunft die Möglichkeit einer rassistischen Tatmotivation von Anfang an mitermittelt werden muss und erst dann ausscheiden kann, wenn entsprechende Ermittlungen nachweisbar stattgefunden haben.
  • Notwendig sind ferner Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die nicht nur Anklagen vorbereiten und Ermittlungsverfahren im Phänomenbereich Rechtsextremismus durchführen, sondern diese auch in der Hauptverhandlung vertreten.
  • Gefragt sind ferner spezialisierte Anlaufstellen für Minderheiten bei der Polizei. Als Vorbild dafür können die „AnsprechparterInnen für 76 gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ beim Berliner Landeskriminalamt dienen. Andere Minderheitengruppen können sich bisher allenfalls an die allgemeinen Opferschutzbeauftragten wenden.
  • Um effizient gegen rassistische, antisemitische oder sonstige rechte Straftaten vorgehen zu können, brauchen Polizei und Strafverfolgungsbehörden aber vor allem die Mithilfe der Betroffenen. Das Staatsversagen im NSU-Komplex dürfte das ohnehin schon geringe Vertrauen der Minderheiten, dass Polizei und Justiz im Notfalle auch für sie da sind, weiter beschädigt haben. Um dieser Frage genauer auf den Grund zu gehen und Konsequenzen aufzuzeigen, bedarf es dringend einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie.
  • Schließlich braucht es eine nachhaltige Finanzierung der bestehenden unabhängigen Beratungsstellen für Opfer politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt und der Mobilen Beratungsteams durch die jeweiligen Länder und den Bund. Diese Stellen gibt es bisher nur im Osten Deutschlands. Damit auch in den alten Bundesländern ein entsprechendes Beratungsangebot flächendeckend und nach den Qualitätsstandards der bestehenden Projekte aufgebaut werden kann, muss der Bund die entsprechenden Programme aufstocken. Derzeit ist das Gegenteil der Fall: Die Bundesregierung hat sich geweigert, eine Verpflichtungserklärung für die Weiterfinanzierung der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus über den 31. Dezember 2013 hinaus abzugeben, so dass sich ein Teil der Bundesländer nun unter Verweis auf die fehlenden Bundesmittelzusagen weigern, ihre eigenen Anteile beizusteuern. Der Freistaat Sachsen will sogar schon im kommenden Jahr die Finanzierung der Initiativen im Rahmen des Landesprogramms „Weltoffenes Sachsen“ erheblich kürzen. „Mit einem Änderungsantrag zu den laufenden Haushaltsverhandlungen, sind von den bisherigen 1,89 Millionen Euro über die Hälfte – eine Million Euro – als Zweck gebundene Förderung für Jugendarbeit der großen Verbände, wie Katastrophenschutz, Wasserrettung, Kinderschutz, Religion, Sport und Jugendfeuerwehren vorgesehen“, kritisiert Grit Hannefort vom Kulturbüro Sachsen. Damit blieben für die Initiativenlandschaft in Sachsen lediglich 890.000 Euro für die kommenden zwölf Monate. Das sei eine Kürzung des Landesprogramms „durch die Hintertür und ein Ende der Förderung langjähriger Projekte zur Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus“, kritisiert ein breites Netzwerk an Initiativen und Vereinen in Sachsen, die sich zum Netzwerk „Tolerantes Sachsen“ zusammengeschlossen haben.
[1] so Heinz Fromm, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz bis Juli 2012, schon in der 58. Sitzung des Innenausschuss des Bundestages am 21.11.2011
[2] Aussagen des Zeugen Wolfgang Cremer in der 24. Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU am 5. Juli 2012
[3] www.thomasoppermann.de/details.php?ID=1193&PHPSESSID=50176ac1ad95b2d0340 b400500bd5ccd
[4] MDR-exakt v. 14.11.2012;www.mdr.de/exakt/polizeieinsatz_hoyerswerda100.html [5] Tagesspiegel v. 26.11.2012; www.tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus-neonazisin- hoyerswerda-bloss-keine-umstaende/7435758.html
[6] taz Nord v. 31.7.2012
[7] Frankfurter Rundschau online v. 5.11.2012; www.fr-online.de/vorwuerfe-gegen-polizei/ rassismus-polizei-frankfurt-ihr-seid-hier-nicht-in-afrika,20810664,20797476.html
[8] siehe den Beitrag von Ulli Jentsch in diesem Heft
[9] Lang, K.: Grundlegende Veränderungen sind nötig, in: Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz); Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) Berlin (Hg.): Berliner Zustände 2011. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus und Rassismus, Berlin 2012, S. 22-25 (22), online unter www.blog.schatten bericht.de/files/ 2012/06/BerlinerZust%C3%A4nde2011_web.pdf
[10] Zwei Studien von 2009 verweisen auf erhebliche Dunkelfelder. Die EU-Grundrechteagentur befragte in einer ersten europaweiten Studie zu rassistischer Gewalt und Diskriminierung über 20.000 Personen in allen Mitgliedsstaaten; siehe EU-minorities and discrimination survey: http://fra.europa.eu/en/project/2011/eu-midis-european-unionminorities- and-discrimination-survey. 37 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten im vergangenen Jahr persönlich Diskriminierung erlebt; zwölf Prozent berichteten, dass sie Opfer einer rassistisch motivierten Körperverletzung wurden. Jedoch lediglich ein Fünftel der Betroffenen wandte sich an die Polizei. Die EU-weiten Zahlen decken sich mit Erkenntnissen aus einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen: Baier, D. u.a.: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, Hannover 2009, www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf. Danach erklärten 76 Prozent aller befragten Jugendlichen, die rassistische Gewalttaten begangen hatten, dass sie nach der Tat keinerlei Kontakt mit Strafverfolgungsbehörden hatten.