Archiv der Kategorie: CILIP 072

(2/2002) Versammlungsfreiheit, Demonstrationen und Polizei

Per Gesetz gegen ein Grundrecht – Eine kurze Geschichte des Demonstrationsrechts

von Heiner Busch

Das Versammlungsgesetz, autoritäre Traditionsbestände im Strafrecht und flexible Regelungen des „modernen“ Polizeirechts bewirkten seit Gründung der Bundesrepublik, dass die Versammlungsfreiheit nicht grenzenlos wurde.

Mutig waren sie nicht, die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes (GG). Sie verankerten zwar in Art. 8 Abs. 1 GG das Recht aller Deutschen, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, sorgten jedoch in Abs. 2 dafür, dass das Grundrecht „für Versammlungen unter freiem Himmel … durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden“ kann. Die Formulierung der Versammlungsfreiheit ist halbgar, diktiert von der Angst vor dem Volk – ein „typisches Kompromissprodukt der deutschen Verfassungsgeschichte“, in der einer Opposition außerhalb der verstaatlichten Formen immer polizeiliche Grenzen gesetzt wurden. „Der Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG, der seine Schranke erst in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG findet, war das gesetzestechnische Einfallstor, mit dem an staatsautoritäre Traditionsbestände reibungslos angeknüpft werden konnte.“[1] Per Gesetz gegen ein Grundrecht – Eine kurze Geschichte des Demonstrationsrechts weiterlesen

Wendland ohne Demonstrationsrecht – Erfahrungen aus sieben Jahren Castortransporten

von Elke Steven

Seit dem ersten Transport von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager Gorleben im April 1995 wird der Verlust demokratischer Grundrechte der Bevölkerung im Wendland immer neu anschaulich. Wochen vor jedem Transport beginnt ein Ausnahmezustand, der den Alltag einer ganzen Region lahm legt. Grundrechte sind aufgehoben, und die Polizei wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als Besatzungsmacht erlebt.

Fünfmal wurde in den letzten sieben Jahren hochradioaktiver Müll in das Zwischenlager nach Gorleben transportiert. Für AtomkraftgegnerInnen sind diese Transporte Anlass, öffentlich gegen die Produktion von Atomenergie zu protestieren und den Ausstieg aus ihr zu fordern. Dabei ist eine ihrer Protestformen die gewaltfreie Behinderung des Transportes und die Verzögerung seiner Ankunft im Zwischenlager. Diesen besorgten BürgerInnen stehen Politik und Polizei gegenüber. Die Politik hat es völlig versäumt, die Ängste und Anliegen ernst zu nehmen. Stattdessen hat sie mit den Atomkraftbetreibern – ohne die AtomkraftgegnerInnen und ihre kompetenten VertreterInnen einzubeziehen – einen sogenannten Kompromiss ausgehandelt. Der Polizei kämen in diesem Zusammenhang theoretisch zwei unterschiedliche und schwer zu verbindende Aufgaben zu: den Protest der BürgerInnen zu schützen und zugleich den Transport zu ermöglichen. Praktisch stellt sie sich immer stärker auf die Seite der Betreiber und der Transportunternehmen.

Im Laufe dieser Transport-Jahre haben sich die Eingriffsmöglichkeiten der Polizei erweitert und verändert. Immer deutlicher ist das Handeln der Polizei auf die Zerschlagung der Proteststrukturen gerichtet. Auf Seiten der BürgerInnen hat sich eine große Selbstverständlichkeit im Aufruf zu gewaltfreiem zivilen Ungehorsam entwickelt. Gleichzeitig geraten – angesichts der Behinderungen des breiten Protestes – immer stärker kleine (und manchmal geheime) Aktionen in den Vordergrund. Wendland ohne Demonstrationsrecht – Erfahrungen aus sieben Jahren Castortransporten weiterlesen

Den 1. Mai in Berlin neu denken – Ein erfolgreiches Scheitern und ein Lernprozess

von Peter Grottian

Die Fixierung auf die Gewaltfrage zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ist inzwischen zur Gewohnheit geworden. Einen Ausweg aus dieser Falle zu suchen, einen politischen und polizeifreien 1. Mai zu gestalten, das war das Ziel, das sich ein Personenbündnis in diesem Jahr gesetzt hatte.

Noch Ende der 80er Jahre interpretierte man die Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und zumeist Vertretern der autonomen Szene als Ausdruck stadtpolitischer und sozialer Proteste, sogar als Angriff auf die Strukturen des kapitalistischen Systems. In den 90er Jahren standen selbst diejenigen ratlos da, die noch am ehesten für regelverletzende, kapitalismuskritische Interventionen als Jugend- und Systemprotest Sympathien hegten, aber mit dem ritualisierten, inhaltsleeren, inhaltsversteckenden Protest nichts mehr anzufangen wussten. Das ermutigte den CDU-Innensenator Eckart Werthebach in den Jahren 2000 und 2001 einen systematischen Aufheizungsprozess weit vor dem 1. Mai zu inszenieren und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit erheblich einzuschränken. Eine polizeiliche Einkesselungs- und Zerstörungsstrategie des Mariannenplatz-Festes führte zu den sattsam bekannten Schuldzuweisungen von beiden Seiten, wobei das demonstrationsbeobachtende Komitee für Grundrechte und Demokratie die Dynamik der Eskalation sehr eindeutig der Politik und der Polizei anlastete. Den 1. Mai in Berlin neu denken – Ein erfolgreiches Scheitern und ein Lernprozess weiterlesen

Kostenrisiko Demonstration – Die Drohung mit dem finanziellen Polizeiknüppel

von Olaf Griebenow


Seit den 70er Jahren gab es Versuche, gewaltlosen Protest zu einem unkalkulierbaren finanziellen Risiko zu machen. Dabei lassen sich drei verschiedene Vorgehensweisen unterscheiden: erstens der Versuch, die gesamten Kosten eines Polizeieinsatzes über Schadensersatzforderungen einzelnen TeilnehmerInnen aufzubürden, zweitens Kostenbescheide für die Anwendung unmittelbaren Zwangs sowie drittens das Geltendmachen von Schadensersatzansprüchen Dritter.

Im März 1977 räumte die Polizei den besetzten Bauplatz für das AKW Grohnde. Tausende hatten hier demonstriert. Achtzehn identifizierten AKW-GegnerInnen präsentierte der niedersächsische Innenminister eine Rechnung über 234.000 DM Schadensersatz. Die Forderung setzte sich zusammen aus den Stundensätzen für die eingesetzten Beamten sowie den Kosten für 167 Schlagstöcke (verloren oder kaputtgehauen), 387 Gasmaskenfilter, 135 Nachfüllpatronen für die Chemische Keule, 733 Tränengasgranaten, 13 Einsatzanzüge und eine Unterhose (!).[1]1981 folgte das Oberverwaltungsgericht Celle der Argumentation des Ministeriums und sah kein Problem darin, einzelnen TeilnehmerInnen die Summe aller Kosten zuzurechnen, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten durch unterschiedliche Aktivitäten unterschiedlicher Personen entstanden waren. Erst der Bundesgerichtshof (BGH) hob diese Entscheidung auf und wies auf die Selbstverständlichkeit hin, dass die Haftung den Nachweis eines konkreten Tatbeitrags voraussetzt, der über die bloße Beteiligung an einer Demonstration hinausgeht.[2] Weil das Land Niedersachsen zu einer Zuweisung einzelner Schäden nicht in der Lage war, verzichtete es schließlich auf die Durchsetzung der Forderung. Ähnliche Versuche, die gesamten Schäden, die im Zusammenhang einer Demonstration entstanden waren, auf einzelne TeilnehmerInnen oder auf die AnmelderInnen abzuwälzen, gab es Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre auch in anderen Bundesländern.[3] Kostenrisiko Demonstration – Die Drohung mit dem finanziellen Polizeiknüppel weiterlesen

Polizeirecht nach Landgrafenart – Über den Versuch des thüringischen Gesetzgebers, alle Überwachungslücken zu schließen

von Martin Kutscha

Bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2001 pries Thüringens Innenminister Christian Köckert (CDU) sein Bundesland wegen der alljährlich sinkenden Fallzahlen noch als eines der sichersten der Republik. Dennoch meinte die regierende CDU, auf der allgemeinen Verschärfungswelle reiten zu müssen und gewährte der Polizei und dem Verfassungsschutz mit dem „Gesetz zur Änderung des Polizei- und Sicherheitsrechts“ weitreichende neue Befugnisse. Am 28. Juni 2002 trat die Novelle in Kraft.[1]

Die ursprüngliche Fassung des Thüringer Polizeiaufgabengesetzes (PAG) stammt von 1992 und folgte dem Vorbild Baden-Württembergs. Schon damals befand man sich in der Gruppe der Länder mit dem „schärfsten“ Polizeirecht. 1997 und 1999 sorgten Novellen dafür, dass der Anschluss an diese Spitzengruppe erhalten blieb:[2] Die „Schleierfahndung“ wurde eingeführt, die gesetzlichen Voraussetzungen des „Unterbindungsgewahrsams“ sowie des Einsatzes technischer Mittel in Wohnungen wurden gelockert. Auch ein Teil der jetzt neu eingeführten Bestimmungen knüpft an ähnliche Regelungen in anderen Bundesländern an, geht punktuell aber darüber hinaus.

So haben inzwischen mehrere Länder nach dem Vorbild von Niedersachsen (1996) das polizeirechtliche Instrument des Aufenthaltsverbots neben der nur kurzfristigen Maßnahme der Platzverweisung eingeführt. Das Verbot, einen bestimmten örtlichen Bereich für einen längeren Zeitraum – im thüringischen Fall bis zu drei Monaten – zu betreten, stellt einen gravierenden Eingriff in das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Grundgesetz, GG) dar. Polizeirecht nach Landgrafenart – Über den Versuch des thüringischen Gesetzgebers, alle Überwachungslücken zu schließen weiterlesen

Vor neuen Gipfeln – Über die Schwierigkeiten internationaler Demonstrationen

von Heiner Busch

EU- oder G8-Gipfel, Tagungen der Welthandelsorganisation oder des (privaten) Davoser World Economic Forums – wo die Mächtigen der Welt zusammenkommen, wird die Wahrnehmung demokratischer Rechte zum Risiko.

Rund ein Jahr ist es her, dass ein 20-jähriger Carabiniere bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua einen 23-jährigen Demonstranten erschoss. Der Tod des Carlo Giuliani, die Blutspuren in der „durchsuchten“ Scuola Diaz und die Misshandlung von Inhaftierten, die „teilweise über 15 Stunden an der Wand stehen oder 24 Stunden ohne Wasser und Nahrung“ verbringen mussten, haben Ende Juli letzten Jahres die Öffentlichkeit erschüttert.[1] Für kurze Zeit wurde die stereotype Warnung vor dem „Schwarzen Block“ von der Kritik an der Eskalationsstrategie der Regierung Berlusconi und ihrer Polizei überlagert. Die systematische Unterdrückung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua waren jedoch kein singuläres Ereignis. Bereits wenige Wochen zuvor, beim Treffen des Europäischen Rates in Göteborg, hatten Polizisten gegen Demonstrierende von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.

Nach den Ereignissen von Genua sah sich selbst das Europäische Parlament (EP) gezwungen, die EU-Regierungen auf die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Datenschutz und die Bewegungsfreiheit hinzuweisen. Im sog. Watson-Bericht kritisiert das EP den „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ und propagiert eine Deeskalationsstrategie sowie den „Dialog mit den Globalisierungsgegnern“. Mit seinen Forderungen, „gewalttätige Gruppen (den so genannten ‚Black Block‘) oder kriminelle Organisationen“ effizient zu bekämpfen sowie EU-weit zu definieren, wer bzw. was „gefährliche Personen und Verhaltensweisen“ sein sollen, rennt das EP beim Rat der Innen- und Justizminister jedoch offene Türen ein.[2] Vor neuen Gipfeln – Über die Schwierigkeiten internationaler Demonstrationen weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt

Obwohl zum Thema „Polizei und Demonstrationen“ viel veröffentlicht wurde und wird, fehlen nach wie vor Darstellungen, die die polizeiliche Praxis gegenüber Demonstrationen wie die Praxis der Demonstrierenden gegenüber der Ordnungsmacht mehr als nur punktuell beleuchten. Soweit ersichtlich mangelt es ebenso an Untersuchungen, in denen ereignisbezogen die verschiedenen Perspektiven systematisch analysiert werden, wie an solchen, die die strategischen Wandlungen und die empirischen Variationen demonstrationsbezogener Polizeieinsätze über die Jahre oder Jahrzehnte hinweg verfolgen. Im Folgenden können deshalb nur Hinweise auf einige Veröffentlichungen gegeben werden, die nicht mehr als Teile eines unfertigen Puzzles sind. Literatur weiterlesen