Notizen zur Geschichte der Bürgerrechtsgruppen im Nachkriegsdeutschland

Ungeachtet ihres rinnsalartigen Begleitens des mächtig etablierten Stroms alt- und neubundesdeutscher und ehemals auch DDR-licher Politik hat es Bürgerrechtsgruppen immer gegeben. Die von dem Politologen und Theologen Alfred Roos getroffene Feststellung, „(…) wenn es sich schon um Bürgerrechtsthemen handelt, dann stehen die Menschen- und Bürgerrechtsbewegten im größeren Deutschland mit dem Rücken zur Wand“ kennzeichnet die randständige Rolle aller Bürgerrechtsgruppierungen in den beiden kleineren Deutschlands, BRD und DDR, von Anfang an. Freilich, es handelt sich um einen oszillierenden Zustand: Phasen nahezu völligen Schweigens folgen auf Phasen erheblicher Aktivitäten. Nur einmal allerdings schienen Bürgerrechte und entsprechende Gruppierungen eine entscheidende Rolle zu spielen, in der besonderen Konstellation 1989/90. Ansonsten wirkten alle Aktivitäten bestenfalls als Nadelstiche oder leisteten einzelne Personen nützliche, zuweilen sogar existentielle Hilfe. Insgesamt betrachtet und gewertet, vermochten die Bürgerrechtsgruppen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als Sand ins Getriebe einer politischen Maschinerie zu werfen, die allzusehr nach dem Motto funktionierte, daß Bürger- und Menschenrechte nur dann zu beachten seien, wenn sie dem etablierten System herrschender Interessen nützten.

Der engere Begriff der Bürgerrechtsgruppen umfaßt nur solche Organisationen, die sich nominell korrekt für in der Verfassung verankerte Bürgerrechte einsetzen. Der weitere Begriff schließt dann auch die Gruppierungen ein, de-ren Absichten und Aktivitäten bürgerrechtlich von Belang sind. Daß von Bürgerrechtsgruppen die Rede sein kann oder daß die nicht exklusiv auf Bürgerrechte ausgerichteten Gruppen in diesem Zusammenhang behandelt werden können, setzt allerdings ein trennscharfes Kriterium voraus. Es muß sich prinzipiell um außerparlamentarische, nicht parteigebundene Organisationen handeln. So sehr sie auf die politische Willens- und Entscheidungsbildung Einfluß nehmen mögen, so wenig dürfen sie sich direkt an Wahlen beteiligen und im Rang der etablierten Institutionen repräsentativer Demokratie wirken. In diesem Sinne sind nicht alle Bürgerinitiativen und nicht alle neuen sozialen Bewegungen zu behandeln, wenn es um Bürgerrechtsorganisationen geht.

Was sind Bürgerrechte?

Diese zeichnen sich zunächst durch einen doppelten Widerspruch aus, der nicht einfach aufzulösen ist. Zum einen wurden die Bürgerrechte im Verlauf der Entstehung des modernen Staates konstituiert. Dieser moderne Staat aber ist es gleichzeitig, der sie zuallererst gefährdet. Nicht umsonst sind die im 18. Jahrhundert zuerst verkündeten Bürger- und Menschenrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe konzipiert. Zum anderen: Menschen- und Bürgerrechte sind, wie erstmals durch die „Virginia Bill of Rights“ geschehen, als universelle Rechte prinzipiell an alle Menschen adressiert. Diese universell geltenden Menschen- und Bürgerrechte werden jedoch (nahezu exklusiv) staatlich vertäut und allein von den sich auf sie beziehenden Verfassungsstaaten halbwegs geschützt. Das aber heißt, da der moderne Staat sich durch die Inklusion seiner Bürger, (wie es im Deutschen heißt: als Staatsbürger) auszeichnet und damit zugleich alle anderen Menschen als Fremde exkludiert, daß Bürger- und Menschenrechte einen doppelten Status besitzen: Einen eindeutigen Rechtsstatus prinzipiell vollgültiger Natur für die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und einen verminderten Status für alle übrigen Menschen: Ihnen wird weder ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht zuerkannt, noch genießen sie politische Teilnahmerechte.

Die Bürgerrechtsgruppen vertreten in aller Regel den weiteren Bürgerbegriff, der in den Menschenrechten impliziert ist. Nicht wenige sind gerade deswegen entstanden, weil sie die Bürgerrechte von Fremden aller Art programmatisch und praktisch vertreten. Allerdings zeitigt der tiefe Riß zwischen staatlich prinzipiell garantierten Bürgerrechten und den Menschenrechten, denen das Fundament staatlicher Inklusion mangelt, auch für die Gruppen selbst erhebliche Effekte. Manche sind primär auf Staatsbürgerinnen- und Staatsbürgerrechte ausgerichtet. Doch auch jene, welche die Kluft zwischen Bürger- und Menschenrechten nicht anerkennen, sind in ihren Aktivitäten, die sich unvermeidlicherweise an staatliche Einrichtungen und Repräsentanten richten müssen, dazu genötigt, die normativ praktische Kluft in den Bürger- und Menschenrechten wahrzunehmen.

Eine weitere Schwierigkeit, Bürgerrechte genau zu bestimmen, kommt hinzu. Gemäß der sich aus dem 18. Jahrhundert herleitenden Tradition, werden sie eher punktuell und als Abwehrrechte normiert. Außerdem wird stets voraus-gesetzt, daß Bürgerinnen und Bürger in der Lage seien, ihre Rechte entsprechend wahrzunehmen. Aus dieser Sicht genügt es bspw., die Meinungsfreiheit zu normieren und dann darauf zu achten, ob staatliche Instanzen sie in unmittelbarer Weise gefährden. Daß die Voraussetzungen, eine eigene Meinung zu haben, möglicherweise generell mangelhaft sind, daß die Meinungsproduktion so eingerichtet ist, daß Bürgerinnen und Bürger sich nur noch als passive EmpfängerInnen verhalten können u.ä.m., wurde zunächst nicht beachtet und wird auch heute nur am Rande zur Kenntnis genommen. Um also der punktuellen und einseitigen Konzeption der Bürger- und Menschenrechte zu entgehen, sind diese auch in Verbindung mit dem zu verstehen, was neuerdings soziale Grund- oder Menschenrechte genannt werden (wie sie auch in den diversen Normierungen der UNO zum Teil auftauchen). Weiterhin hat vor allem die neuere Frauenbewegung dazu beigetragen, den Begriff der Bürgerrechte auszuweiten. Obwohl die folgenden Abschnitte dem notwendigen breiten und aktiven Begriff der Bürgerrechte und Bürgerrechtsorganisationen nicht ausreichend folgen können, ist er dennoch stets zu berücksichtigen.

Bürgerrechtsgruppen können, so wie Bürgerrechte, nicht für sich selbst behandelt werden. Sie gewinnen erst Profil, wenn sie im Kontext von Politik, Ökonomie und Gesellschaft betrachtet werden. Bürgerrechtsgruppen als beschränkte soziale „Unternehmer“ sind weithin nur Reakteure, weniger Akteure, auch wenn ihre Reaktionen nicht ohne Rückwirkungen auf die primären politischen gesellschaftlichen Akteure sind. Themen, Organisationsweise, Wirkungsgrade und -grenzen lassen sich jedenfalls nur dann hinreichend er-kennen und qualifizieren, wenn sie inmitten staatlicher Herrschaft, der spezifischen Verfassung des Staates und dem entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhang begriffen werden.

Dementsprechend sind die Etappen, die sich mehr oder weniger trennscharf in Nachkriegsdeutschland markieren lassen, zuallererst Etappen der beiden deutschen Teilstaaten nach 1949 oder, seit 1990, der neuen Bundesrepublik. Sie gehen entlang der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und holen erst später in einem kurzen Abschnitt die Geschichte der DDR und ihrer Bürgerrechtsbewegungen nach.

Nachkriegsphase (1945-1949): Die eingeführten Bürgerrechte

Die erste Nachkriegsphase war den Bürgerrechten nicht günstig. Sie stellten weithin ein Fremdwort dar. Dort, wo nicht die erste soziale Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die gegen die Entnazifizierung (und diejenige fürs Überleben und Sich-Wieder-Etablieren) vorherrschte; dort, wo es um ein substantiell zu erneuerndes „Deutschland“ ging, bei den verschiedenen Gruppen, bei den Initiativen, die auf ein neues Europa von unten drängten, bei den christlichen und nicht-christlichen Sozialismen, spielten Bürgerrechte keine direkte Rolle. Immerhin jedoch reagierten die wenigen Politikerinnen und die vielen Politiker nicht nur auf (vor allem US-amerikanischen) Druck, als sie staatsbürgerbegrenzte Bürger- und die allgemeinen Menschenrechte (in der abwehrrechtlichen Tradition) im Grundgesetz verankerten. Somit ermöglichte es die 1949 verabschiedete Verfassung des Grundgesetzes allen späteren Bürgerrechtsorganisationen, sich auf eine staatsoffiziell statuierte Norm zu beziehen und den Kampf um Bürgerrechte prinzipiell als Politik im Rahmen der Verfassung zu führen. Einer der wenigen Artikel des Grundgesetzes, der aus der Erfahrung der totalen Verneinung aller Grund- und Menschenrechte durch den deutschen Nationalsozialismus unmittelbare Konsequenzen zog, der Art. 16, Abs. 2, Satz 1 GG: „Politische Verfolgte genießen Asylrecht“, allerdings wurde 1993 verfassungsändernd kassiert. Die Nachkriegszeit sollte in diesem Sinne ihr Ende finden.

Eine spezifisch amerikanische Erfindung stellt der Bund für Bürgerrechte dar, der nach etlichen Vorversuchen zwischen 1950 und 1953 bestanden hat . Er wurde von der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) initiiert und sollte nach ihrem Muster parteiübergreifend funktionieren. Mit amerikanischen Geldern gefördert hat er rechtsberatend eine erkleckliche Leistung vollbracht. Nicht wenige bekannte deutsche Intellektuelle und Politiker haben an diesem Bund und seinen Vorformen in der einen oder anderen Weise mitgewirkt. Der Versuch kam aber zum Erliegen, als die amerikanischen Gelder ausblieben und die Bundesrepublik im „Kalten Krieg“ bürgerrechtlich weitgehend erfror.

1950 bis Anfang der 60er Jahre: Untergepflügte Bürger- und Menschenrechte

Ob man die Verfassung des Grundgesetzes, wie dies der emigrierte Verfassungsrechtler Karl Loewenstein seinerzeit getan hat, als „demo-autoritär“ bezeichnen kann, sei dahingestellt. In jedem Falle wurden die Bürger- und Menschenrechte rasch unter den Vorbehalt des „Kalten Krieges“ und den nach innen verlängerten Freund-Feind-Begriff des Politischen gestellt. „Das nicht erfüllte Grundgesetz“ (Adolf Arndt) bewirkte die „Strukturdefizite“ (Ernst Fraenkel) der westdeutschen Demokratie. Letztere kam bürgerrechtlich im erneuerten politischen Strafrecht zum Ausdruck und in der antikommunistisch ausgerichteten Praktizierung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“.

Einige wenige Strafverteidiger wirkten geradezu wie bürgerrechtliche Institutionen. Hervorgehoben seien Diether Posser und später Heinrich Hannover. Ansonsten kennzeichneten die 50er Jahre große politische Bewegungen, vom Kampf um die Mitbestimmung über die Opposition gegen die Wiederaufrüstung bis hin zur Anti-Atomtod-Bewegung. Sie sind nur indirekt bürgerrechtlich interessant.

Insgesamt war es die Zeit der Entwicklung dessen, was schon in der Verfassung von 1949 als „streitbare“ oder „abwehrbereite“ Demokratie angelegt ist. Nun wurde diese „streitbare Demokratie“ in der Einzäunung der Bürgerrechte rechtspolitische Wirklichkeit. Am Beispiel des Versammlungsgesetzes von 1953 läßt sich dies illustrieren. Dieses Gesetz, das das Grundrecht auf „öffentliche Versammlung unter freiem Himmel“ (Art. 8, Abs. 2 GG) entsprechend einzelgesetzlich präzisieren sollte, ist durchgehend nicht vom Grundrecht auf Versammlung geprägt, sondern allein vom Gedanken auf polizeiliche Sicherung durchwirkt.

Mitte der 60er Jahre: Der erste bundesdeutsche Umbruch

Alle Periodisierung ist ungenau, vor allem im Hinblick auf Geschehnisse, die z.T. schon in die 50er Jahre zurückreichen und weit über die 60er Jahre nach vorn verweisen. Außer Frage steht jedoch, daß die 60er Jahre im Rahmen der Bundesrepublik so etwas darstellen, wie eine „Sattelzeit“. Es zeigte sich, daß die nach 1949 rasch neu geschaffenen bzw. restaurierten Institutionen und Verfahren (bspw. des Bildungssystems) den quantitativen und qualitativen Anforderungen nicht mehr genügten. Im Rahmen des Regierungssystems brachte die Große Koalition (1966-1969) den Übergang zum Ausdruck. Bürgerrechtlich wird er zuerst durch die „Spiegel-Affäre“ von 1962 signalisiert. Der strafrechtlich nicht legitimierbare Übergriff der Regierung (Durchsuchung der Spiegel-Räume, Inhaftierung des Herausgebers und seines führenden Journalisten unter dem Vorhalt unmittelbarer Gefahr für den Staat durch landesverräterische Publikation) führte im Bundestag zu einer heftigen Diskussion . Der staatliche Übergriff initiierte darüber hinaus eine allgemeinere öffentliche Debatte, die bürgerrechtliche Lichtflecken zeigte.

Den Umbruch selbst demonstrierten dann die Außerparlamentarische Opposition rund um die Notstandsgesetze und vor allem die Studentenbewegung mit all den sonstigen „Bewegtheiten“, nicht zuletzt der wie plötzlich emporschießenden Bürgerinitiativen. „Mehr Demokratie wagen“ wurde plötzlich praktiziert und erst dann, 1969, von Willy Brandt verkündet. Die „Leitlinien des stabilitätskonformen Verhaltens“ (Gerd Schäfer), die bisher gegolten zu haben schienen, verwirrten sich. Nicht zuletzt die Demonstration wurde als eine Ausdrucksform von Bürgerinnen und Bürgern regelrecht entdeckt. Aus „Aufzügen und Aufmärschen“, die, von einem „Führer“ dirigiert, der Konzeption des Versammlungsgesetzes entsprachen, wurden nun Ausdrucksformen eines „Stücks ursprünglich ungebändigter unmittelbarer Demokratie“ .

Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurden auch die ersten Bürgerrechtsorganisationen im engeren Sinne gegründet: 1958 die Internationale Liga für Menschenrechte, 1961 die Humanistische Union und bald darauf der deutsche Zweig von Amnesty International. Wenn auch die Humanistische Union in ihren Gründungsmotiven, in ihrem antiklerikalen Affekt noch sehr stark die Hochzeiten dessen zum Ausdruck brachte, was man den „CDU-Staat“ genannt hat, so signalisierte sie doch zugleich, wie sehr bürgerrechtliche Sorgen rund um die klassischen Freiheitsrechte größer werdende Kreise der Gesellschaft umtrieben. Gegen Ende der 60er Jahre signalisierte die aufkommende Frauenbewegung einen neuen kräftigen Wachstumsring. Nun wurden nicht nur herkömmliche Grund- und Menschenrechte eher punktuell eingeklagt, nun wurde ein neues Bürgerrechtskonzept vorgestellt und gesellten sich Bürgerinnen eigenständig zu den Bürgern.

Ende des Aufbruchs: die 70er und die 80er Jahre

Gravierende Veränderungen hielten an, vom expandierenden Bildungssystem bis zur neuen Ostpolitik. Auch die neue Erscheinung der Bürgerinitiativen blieb auf der öffentlichen Bühne und vermehrte sich. Sie stieß die Aktivitäten an, die dann unter dem Sammelbegriff Neue Soziale Bewegungen zum allgemeinen Begriff und bundesdeutsch zum Alltagsereignis wurden.

Trotz dieser anhaltenden Veränderungen und Politisierungsprozesse verengten zwei dynamische, aufeinander fixierte Sklerosen die Spielräume der Bürgerrechte, zerfraßen deren rechtliche Grundlage und schnürten die Luftröhre öffentlicher Diskussion ab: Der Auf- und Ausbau des „Systems Innerer Sicherheit“ auf der einen Seite, auf der anderen die Erstarrung und z. T. selbst gewählte Illegalisierung der Studentenbewegung und ihres Umkreises, in den sog. „K-Gruppen“, der „RAF“, der „Bewegung 2. Juni“ u.a.m. Obwohl der „Kalte Krieg“ nach außen zu tauen begann und innenpolitisch die Neuen Sozialen Bewegungen zu einem nicht-etablierten politischen Akteur wurden, wurde die Freund-Feind-Formel als innenpolitische Kennmarke erneuert. Entsprechend wurden die Kompetenzen und die Apparate der „inneren Sicherheit“, von Polizei und Geheimdiensten erheblich nach vorwärts verrechtlicht und ausgebaut. Vage und pauschal formulierte strafrechtliche Normen wurden als politische Waffe geschmiedet (bspw. der 1976 neu normierte 129a StGB). Die zentralen Rechte der Verteidigung wurden beschränkt. Hinzu kam seit 1972 eine nachträglich kaum noch erklärliche allgemeine Gesinnungsüberprüfung, insbesondere der BewerberInnen für den öffentlichen Dienst. Sie ist unter dem Stichwort „Berufsverbot“ international bekannt geworden.

Was die Bürgerrechtsgruppen angeht, so waren die wenigen schlicht überfordert. Außerdem wurden sie zwischen den Mühlsteinen von Terrorismus und Antiterrorismus und dem allg. Sympathisantenverdacht schier zerrieben. Die sog. „Mescalero-Affäre“ kennzeichnet noch heute in ihrem Mangel an Augenmaß die geradezu pervertierte politische Öffentlichkeit, die nur noch aus wechselseitigen Verdächtigungen bestand.

Allerdings organisierte sich eine Fülle von Gruppen wider die Berufsverbote. Große öffentliche Ereignisse signalisierten einen sich mehr und mehr bürger-rechtlich zuspitzenden „Kampf um Verfassungspositionen“ (Wolfgang Abendroth) , etwa der Pfingstkongreß des „Sozialistischen Büros“ von 1976. Ende der 70er Jahre belegen Verlauf und Ergebnis des „Dritten Internationalen Russell-Tribunals“ nicht nur den bedenklichen Zustand der Bürgerrechte in der Bundesrepublik und den Grad der innenpolitischen Zweiteilung, sie belegen zugleich, wie sehr Bürgerrechte zu einer Angelegenheit nicht nur kleiner Gruppen geworden waren, sondern zeitweise selbst zur Sache einer sozialen Bewegung wurden . Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen dieser Zeit versteht sich die Bildung einer Reihe neuer bürgerrechtlicher Gruppen. Hierzu gehören die Gustav-Heinemann-Initiative (SPD-nah und doch zugleich unabhängig von ihr) und das Komitee für Grundrechte und Demokratie. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind aber auch die später in den 80er Jahren erfolgten Gründungen des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (ursprünglich Republikanischer Anwälteverein), der Neuen Richtervereinigung u.ä.m. Zu erwähnen sind auch Gruppen, die sich vor allem um die Verletzung von Menschenrechten außerhalb der Bundesrepublik kümmern, jedoch auf entsprechende Gesetze und Maßnahmen deutscher Politik einzuwirken versuchen und im Kontext von Migration und Flucht aktiv sind. Die beiden wichtigsten gehen schon auf Initiativen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zurück: Medico International und die Gesellschaft für bedrohte Völker. 1986 kam, spezifisch gegen die Einschränkung des Asylrechts gerichtet, Pro Asyl hinzu.

1989: Der zweite Umbruch

Obwohl der zweite Umbruch ungleich spektakulärer in Erscheinung trat, hat er die alte Bundesrepublik zunächst weniger betroffen, als der politisch-kulturelle „Gezeitenwechsel“ Mitte/Ende der 60er Jahre. Für die Bürgerrechte scheint außerhalb der fünf neuen Bundesländer keine neue Situation zu bestehen. Daß die Chance einer notwendigen Verfassungsreform nicht genutzt worden ist, trotz des Versuchs einer Vereinigung bürgerrechtlicher Gruppen aus Ost- und Westdeutschland, die sich 1990 in einem Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder zusammengetan haben, zeigt die Schwäche aller Bürgerrechtsgruppen.

Diese Schwäche in der alt-neuen Bundesrepublik seit 1990 ist auf den ersten Blick erstaunlich. Haben nicht Bürgerrechtsgruppen die sog. friedliche Revolution in der DDR bewirkt und dafür gesorgt, daß die in der DDR systematisch unterdrückten Bürgerrechte am Ende gerade im Zerfall dieses Staates doch siegten?

Die Schwäche spiegelt auch die Eigenart einer Einigung von bundesdeutsch-regierungsamtlich-Oben wider, die den Bürgerrechtsgruppen, gerade auch denen aus der DDR, keine Chance gab. Sie weist darüber hinaus auf die Eigenart der Bürgerrechtsgruppen in der DDR hin, von der zuvor apostrophierten Randständigkeit altbundesdeutscher Bürgerrechtsgruppen zu schweigen.

Die Geschichte der Bürgerrechtsgruppen in der DDR ist an dieser Stelle nicht einmal in Kürze nachzuholen . Oppositionelle Bewegungen gab es in der DDR wie in der BRD von Anfang an, und dies mehr, als es für einen das Regime totalisierenden Blick erkenntlich ist. Opposition war, wie auch Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auswiesen, prinzipiell nicht zulässig, ein qualitativer Unterschied zur Bundesrepublik. Deswegen waren oppositionelle Gruppen auf der dauernden Suche nach der ihre Opposition legitimierenden Grundlage. Der Mangel einer eigenen, in der Verfassung gegebenen Legitimationsbasis und seit 1961 die Mauer führten zu enormen Anpassungszwängen, bzw. allen möglichen Formen von „Exit“, nicht zuletzt im Sinne von Ausreise und Flucht. Zu einem Teil flohen die Bürgerrechte zusammen mit den Bürgern. Infolge der prinzipiellen Unzulässigkeit von Opposition und dem übermächtigen Verfolgungs- und Kontrolldruck konnten sich kaum Kontinuitäten bürgerrechtlicher Opposition herausbilden. (Solche waren für die Altbundesrepublik trotz all ihrer Wandlungen von erheblicher Bedeutung.) So mußten Oppositionsgruppen in den 70er und 80er Jahren ganz neu anfangen. So ist es kein Zufall, daß Opposition, abgesehen von raren revisionistischen Ansätzen im Rahmen der SED (vor allen anderen Robert Havemann), zunächst vor allem des verbliebenen oder wieder erneuerbaren Eigensinns der protestantischen Kirche bedurfte. Die 80er Jahre zeichneten sich dann dadurch aus, daß kirchliche und außerkirchliche Oppositionsgruppen sich in gemeinsamen Friedens- und umweltpolitischen Aktivitäten, schließlich auch in bürgerrechtlichen Zielen trafen. Die diversen „Antis“, welche die DDR durchzogen, vom Antifaschismus bis zum Antiimperialismus, und die direkte Konfrontation mit dem System der BRD, ließen „westliche Werte“, zu denen auch Bürgerrechte und liberale Demokratie gezählt wurden, weniger zu, als dies für andere osteuropäische Länder der Fall war. Dennoch haben die dortigen Initiativen seit der Niederwalzung des „Prager Frühlings“ auf oppositionelle Gruppierungen in der DDR eingewirkt, und es weitete sich die Opposition bürgerrechtlich aus, die sich zuerst gegen die Ausweisungen regte (Biermann, Bahro) und sich Anfang der 80er Jahre friedens- und umweltpolitischen Fragen zuwandte. Zu nennen ist vor allem die Initiative Frieden und Menschenrechte, die Mitte der 80er Jahre gegründet wurde. Wenngleich der menschenrechtliche Bezug umstritten blieb, wurden vor allem neue Institutionen demokratischer Art gefordert, die die bürgerrechtliche Ausrichtung eindeutig belegen. Aus den friedenspolitischen Aktivitäten, etwa dem Seminar „Frieden konkret“, wurden Ende der 80er Jahre demokratisch-bürgerrechtliche Forderungen laut, die dann in den Übergangsjahren 1989/90 eine mitentscheidende Rolle spielten.

Wie sehr freilich die Bürgerrechtsgruppen auf die Ex-DDR fixiert geblieben sind, so daß sie die „Wende“ nicht über den vorher erfahrenen Rahmen hinaus nutzen konnten, zeigt sich dort, wo sie – wichtig genug – für die Bundesrepublik bis heute erfolgreich gewesen sind. Ohne die Anti-Stasi-Gruppen von 1989/90 hätte es die „Gauck-Behörde“ und ihre entsprechenden gesetzlichen Grundlagen nie gegeben. Freilich, diese Anti-Stasi-Gruppen waren auf die Institution Staatssicherheit fixiert und deswegen nicht in der Lage, bürgerrechtliche Konsequenzen, etwa auch im Hinblick auf den bundesdeutschen Verfassungsschutz einzuklagen.

Ein knappes Resümee

Bürgerrechtliches Engagement hat sich in der Bundesrepublik nie so allgemein in einer tendenziell alle gesellschaftlichen Gruppierungen umfassenden Weise installieren lassen, wie dies z. B. ACLU in den USA erkennbar wurde. Allerdings haben sich die bürgerrechtlichen Gruppen, verglichen mit den kalten Zeiten des Anfangs, bzw. ihrer schlichten Unterdrückung bis in den Ge-danken hinein, erheblich vermehrt und vervielfältigt. Bürgerrechte als politisches Kriterium lassen sich aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegdenken. Dies hat unterschiedliche Ursachen. Eine ist ohne Frage, daß die Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes im Laufe ihrer fast 50jährigen verfassungsmäßigen Geltung wenigstens von einer Minderheit der BürgerInnen als ihre Rechte, ihre Normalität aufgenommen worden sind. Hierher gehört auch – so sehr die einzelnen Urteile immer wieder zu beklagen sind und so problematisch die Fixierung auf Karlsruhe ist – die Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes. Nur so ist es zu erklären, daß die Bundesrepublik (anders als die Weimarer Republik) demokratisch-grundrechtlich orientierte Polizistinnen und Polizisten, Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte mitten im Leben der Republik kennt. Kleine Minderheiten ohne Frage, aber doch Minderheiten, die die Differenz ums Ganze bedeuten können.

Die Formen der insgesamt kleinen bürgerrechtlichen Gruppen oder der Gruppen, die sich neben anderen Zielen auch um Bürgerrechte kümmern, sind vielfältig. Die meisten konzentrieren sich auf einen „Kampf um Verfassungspositionen“, der die Verfassung des Grundgesetzes nicht radikal-demokratisch und menschenrechtlich im Sinne eines politischen Gesamtprogramms in Frage zieht. Dementsprechend werden auch Formen zivilen Ungehorsams nur ab und an von vergleichsweise wenigen Gruppen und einzelnen geübt .

Bürgerrechtsgruppen sind in der Bundesrepublik zur Institution geworden, zu kleinen Institutionen, genauer gesagt. Dennoch ergibt sich ein erhebliches Problem. Die meisten Bürgerrechtsgruppen besitzen einen vergleichsweise kleinen Apparat. Deswegen ist ihre Bürokratisierungsgefahr zwar gering, genau deswegen sind sie aber auch sehr häufig nicht in der Lage, bürgerrechtlich mehr als von der Hand in den Mund zu leben; sprich, sie greifen aktuelle Fragen auf und legen sie dann, wenn sie nicht mehr unmittelbar aktuell sind, wieder zur Seite.

Die Bürgerrechtsgruppen sind in aller Regel bundesweit organisiert, sei es als Mitgliedervereinigungen, sei es als „Kopf“-Organisationen. Mit Ausnahme von Amnesty International, in seinen jeweiligen nationalen Niederlassungen und entsprechenden Kooperationen, sind deutsche Bürgerechtsgruppen, die sich auf innenpolitische Belange primär konzentrieren, auf der europäischen Ebene nicht vertreten. Angesichts der wachsenden Bedeutung europaweiter Kooperationen in sicherheitspolitischer Hinsicht und angesichts der wachsen-den europäischen Verrechtlichung stellt die mangelnde europäische Präsenz bürgerrechtlicher Organisationen ein massives Problem dar.

So ergibt sich summa summarum ein höchst ambivalenter Sachverhalt. Auf der einen Seite erfreuen die Vielfalt und Vielzahl der Gruppen und erfreut der politische Gesamteffekt: “ (…) so umfaßt z.B. der Trägerkreis des im bürgerrechtlichen Umfang anzusiedelnden „Bürgerforums Paulskirche 1993“ über 35 mehr oder minder überregionale Organisationen, Initiativen, Stiftungen, Arbeitsgruppen usw. Allein im Flüchtlings- und Asylbereich geht ein Kenner der Szene von 250 Initiativen bundesweit aus, eine Zahl, die eher unter- als übertrieben scheint. Es ist ein „Markt der Möglichkeiten“ entstanden, in dem individuelles, politisch-gesellschaftliches Engagement sich verwirklichen kann“. Gleichzeitig gleichen die Bürgerrechtsgruppen einem kleinen Köter, der an einer wachsenden sichtbaren und unsichtbaren Wand innenpolitischer und transnationaler Sicherheit einigermaßen effektlos emporkläfft. Dennoch oder gerade deswegen kommt alles darauf an, den Köter zu kräftigen und ihn trefflicher bellen zu lehren.

Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.