Archiv der Kategorie: CILIP 138

Wer möchte eine europäische Polizei? Die entfesselte Expansion von Europol

von Chloé Berthélémy

Sicherheits- und Verteidigungsfragen gehören zu den Prioritäten der Europäischen Union für 2024-2029. Zu den Profiteuren des verstärkten Sicherheitsfokus gehören die Agenturen im Bereich Justiz und Inneres, insbesondere Europol, die EU-Agentur für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung. Ihr Mandat soll umfassend überarbeitet werden, damit sie eine „wirklich einsatzfähige Polizeiagentur“ wird.

In ihrem Missionsschreiben an Magnus Brunner, den Kommissar für das Ressort Inneres, kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, sie wolle Europol zu einer „wirklich einsatzfähigen Polizeiagentur“ machen und deren Personal mehr als verdoppeln.[1] Dies erfordere eine umfassende Überarbeitung der existierenden Rechtsgrundlage für die Tätigkeit Europols aus dem Jahr 2016. Laut der kürzlich verabschiedeten EU-Strategie für die innere Sicherheit, „ProtectEU“, soll der Legislativvorschlag für eine Mandatsreform 2026 veröffentlicht werden.[2] Wer möchte eine europäische Polizei? Die entfesselte Expansion von Europol weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt

 „Rechts“ zu sein in Europa (u. a.) ist derzeit weiter schick, das zeigten – leider und nicht zuletzt – die Wahlen zum EU-Parlament. Dass das der Rechten nicht reicht, sondern sie an die Macht will, belegen alle Studien. „Kriegstüchtig“ zu sein in Europa (u. a.) ist wieder schick, das zeigen derzeit alle Rüstungshaushalte weltweit. Beides – „rechts“ und „kriegstüchtig“ aufgestellt zu sein – solle geflissentlich robust, resilient und reziprok geschehen; selbstredend auf hohem technischen Niveau. Wie das in Teilen der Literatur diskutiert wird, können wir hier nur andeuten.

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Automatisierte Ungerechtigkeit: Predictive Policing in Deutschland

von Sonja Peteranderl

Polizeien in Deutschland erforschen zunehmend Algorithmen zur „Prognose“ und „Prävention“ von Straftaten. Viele Systeme werden ohne ausreichende Rechtsgrundlage, Transparenz und Risikoabschätzung entwickelt, getestet oder genutzt – obwohl sie die Diskriminierung marginalisierter Menschen verstärken können. Der Trend verlagert sich dabei von orts- zu personenbezogenen sowie von theoriebasierten zu komplexeren algorithmischen Auswertungen.

Polizeien weltweit haben in den vergangenen Jahren Anwendungen eingeführt, die Verbrechen und andere Gefahren prognostizieren sollen: das sogenannte „Predictive Policing“. Auch in Deutschland wurde der Einsatz „vorausschauender“ orts- sowie personenbezogener Datenanalysen und Algorithmen ausgeweitet. Sie sollen bei der Entscheidungsfindung unterstützen, indem sie Risiken frühzeitig erkennen und es ermöglichen sollen, vorhandene Ressourcen auf Orte oder Personen zu konzentrieren, von denen vermeintlich ein besonders hohes Risiko ausgeht. Dies soll dabei helfen, Straftaten und andere Gefahren rechtzeitig durch präventive Maßnahmen zu verhindern.

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Summaries

Thematic Focus: (In)Security and the shift to the right in Europe

EU home affairs policy at the “turning point”: an introduction
by Dirk Burczyk

For decades, the EU’s “internal security” policy has been shaped by changing enemy stereotypes. The most enduring of these is “irregular” migration. Migration is also a key issue for the extreme and conservative right, which is rushing from one election victory to another at national and European level. The current ring-wing shift in all EU institutions — the Commission, Council, and Parliament — coincides with the emergence of “hybrid threat” as the new enemy stereotype and the internal mobilization for an EU/NATO war with Russia. Summaries weiterlesen

EU-Innenpolitik in der „Zeitenwende“: Eine Einleitung

Die Politik der „Inneren Sicherheit“ in der EU ist seit Jahrzehnten von wechselnden Feindbildern geprägt. Die höchste Kontinuität hat dabei die „irreguläre“ Migration. Sie ist zugleich zentrales Politikfeld der extremen und konservativen Rechten, die national und europäisch von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen. Der aktuelle Rechtsruck in allen Gremien der EU – Kommission, Rat und Parlament – trifft dabei mit dem neuen zentralen Feindbild „hybride Bedrohung“ und der inneren Mobilmachung für einen EU/NATO-Krieg mit Russland zusammen.

Die vergangenen Jahre haben einen klaren parteipolitischen Rechtsruck im Wahlverhalten in den Staaten der Europäischen Union gezeigt. In Italien, Finnland, der Slowakei, Ungarn, Kroatien und Tschechien stellen sie die Regierung oder sind Teil einer Koalition, in Schweden tolerieren sie die Regierungskoalition (Schwedendemokraten). In sieben weiteren Mitgliedsstaaten – Deutschland, Frankreich, Estland, Lettland, Belgien, Österreich und Polen – sind Parteien vom rechten Rand stärkste oder zweitstärkste politische Kraft. In Österreich wäre die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nach den Wahlen im vergangenen Jahr fast wieder Regierungspartner geworden, in Polen hat die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) lange mitregiert und stellt nun zumindest wieder den mit weitreichenden Vetorechten ausgestatteten Präsidenten, in den Niederlanden hat die Partij voor de Vrijheid (PvV) die Koalition im Mai dieses Jahres verlassen. Somit ist fast in der Hälfte der Mitgliedstaaten eine Regierung unter Einschluss rechtsautoritärer Kräfte entweder bereits Realität oder jedenfalls für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Fast besorgniserregender als das Erstarken rechtsautoritärer Kräfte ist der Rechtsruck der konservativen Parteien und jedenfalls vereinzelt die Übernahme offen flüchtlingsfeindlicher Positionen durch die Sozialdemokratie.

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Redaktionsmitteilung

Als die Europäische Union 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, hielten viele das für einen schlechten Scherz. Doch immerhin: Als ein Jahr später mehr als 500 Flüchtlinge bei Lampedusa ertranken, war der Aufschrei so groß, dass die italienische Marine in den Monaten danach 100.000 Menschen aus dem Mittelmeer ans europäische Festland brachte. Zeitgleich zur Ablösung der „Mare Nostrum“-Operation durch Frontex im Oktober 2014 begannen in Sachsen die Demonstrationen der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Den anschließenden „langen Sommer der Migration“ wussten diese und andere „Patrioten“ in ganz Europa zu nutzen, um ihre menschenfeindliche Agenda hoffähig zu machen.

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Erster Jahresbericht Bundespolizei-Beauftragter

Gemäß seiner Pflicht, den Bundestag jährlich über seine Tätigkeit zu unterrichten, legte der Polizeibeauftragte des Bundes, Uli Grötsch, Anfang Juli seinen ersten Jahresbericht vor.[1] Dargestellt werden Eingaben aus der Bevölkerung (267), von Bundespolizeibeschäftigen (78) sowie Selbstaufgriffe (28). Der Bericht informiert über die Schwerpunkte, mit denen der Beauftragte sich 2024 beschäftigte und gibt einen Überblick über dessen Besuche bei Bundespolizeibehörden und Polizeivertretungen, bei zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationen. Die Selbstaufgriffe betrafen die Polizei beim Bundestag (Sicherheit des Parlaments, Vorwürfe zu mutmaßlich rechten und rechtsextremen Vorfällen) sowie Personalgewinnungs- und Ausstattungsfragen bei der Bundespolizei See bzw. dem Flugdienst der Bundespolizei. Erster Jahresbericht Bundespolizei-Beauftragter weiterlesen

EGMR: Plastikfolienvisiere sind keine „Schutzwaffen“

Der Begriff der „Schutzwaffe“ legt nahe, Gegenstände zum Schutz vor externer Gewalteinwirkung seien vergleichbar mit Waffen oder ähnlichen Gegenständen, die zum Angriff genutzt werden. Trotz dieser erkennbar fehlgeleiteten Wertung verbietet § 17a Abs. 1 des Versammlungsgesetzes des Bundes (BVersG) das Mitführen von sog. Schutzwaffen bei Demonstrationen, § 27 Abs. 2 Nr. 1 BVersG sieht sogar eine Sanktionierung mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vor. Wegen mutmaßlicher Verstöße gegen diese Vorschriften wurde ein Frankfurter Aktivist zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte bei den „Blockupy“-Protesten gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank im Jahr 2015 eine mit einem Gummiband befestigte Plastikfolie mit der Aufschrift „Smash Capitalism“ vor dem Gesicht getragen. Verschiedene deutsche Gerichte bestätigten die Verurteilung, bevor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 20. Mai 2025 entschied, sämtliche vorergangenen Urteile verstießen gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention. EGMR: Plastikfolienvisiere sind keine „Schutzwaffen“ weiterlesen

Bundeskriminalamtsgesetz kleinteilig nachgebessert

Nach einer teilweisen erfolgreichen Klage[1] der NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte gegen Normen des Bundeskriminalamtgesetzes (BKAG) mussten Teile des Gesetzes neu gefasst werden. Mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Befugnis zur Datenerhebung bei Kontaktpersonen im Bundeskriminalamtgesetz“[2] wurde im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) klargestellt, dass sich polizeiliche Maßnahmen nur dann gegen Kontaktpersonen richten dürfen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für eine Gefahr durch die eigentliche Anlassperson vorliegen. In einem zweiten „Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Regelungen über den polizeilichen Informationsverbund im Bundeskriminalamtgesetz“[3] sollten Anforderungen des BVerfG zur vorsorgenden Speicherung der Daten von Beschuldigten und Tatverdächtigen im polizeilichen Informationsverbund (IVP), also klassischerweise in Datenbanken wie „INPOL“, umgesetzt werden. Bundeskriminalamtsgesetz kleinteilig nachgebessert weiterlesen

Kaum Transparenz zu staatlicher Überwachung

Josefine Kulbatzki

Knapp ein halbes Jahr später als angekündigt veröffentlichte das Bundesjustizministerium den Bericht zur Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR) Ende April 2025 auf seiner Internetseite.[1] Eine Pressekonferenz gab es nicht; dabei war die ÜGR ein millionenschweres Projekt, das als Grundlage für neue Sicherheitsgesetze dienen sollte und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung (sinngemäß) gefordert worden war. Mit der Durchführung beauftragt war das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (MPI). Ein zehnköpfiges Team untersuchte dort, wie tief Sicherheitsgesetze in die Privatsphäre der Bürger*innen eingreifen. Grundlage hierfür sollten Daten zu Überwachungsmaßnahmen von Polizei, Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden in Bund und Ländern sein. Diese wollte das MPI auswerten und die Eingriffsintensität bestimmen. Kaum Transparenz zu staatlicher Überwachung weiterlesen