Im Frühjahr 2024 veröffentlichte das Bundesamt für Justiz neue Zahlen zu elektronischen Überwachungsmaßnahmen.[1] Demnach wurden 2022 15.451 Abhörmaßnahmen gegen Telefonanschlüsse angeordnet, davon 13.035 Erstanordnungen (insgesamt 1.774 weniger Anordnungen als im Vorjahr). Mehr als ein Drittel der Anordnungen ergingen in Ermittlungen gegen mutmaßliche Drogenhändler*innen, weitere Schwerpunkte waren Betrugskriminalität (2.230), Mord und Totschlag (1.858), bandenmäßige Begehung von Diebstahl und Einbrüchen (1.452) sowie Staatsschutzdelikte (1.052). In 49 Fällen (2021: 24) erfolgte die Abhörmaßnahme durch einen Eingriff in ein informationstechnisches System, als so genannte Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Die Zahl der Anordnungen lag mit 94 (2021: 35) etwa doppelt so hoch. Ein Hinweis darauf, dass den Ermittler*innen die Durchführung technisch nicht immer möglich ist. TKÜ-Bilanz für 2022 weiterlesen
Zahl erfasster Flugpassagierdaten steigt weiter an
In Deutschland werden immer mehr Daten von Flugpassagier*innen erfasst, die in die EU einreisen oder innereuropäische Flugverbindungen nutzen. Das ist das Ergebnis einer Kleinen Anfrage[1] der Gruppe Die Linke im Bundestag. Wurden 2022 noch 424,3 Mio. Datensätze an das Fluggastdaten-Informationssystem übermittelt, waren es 2023 453,7 Mio. Datensätze. Betroffen waren 125,7 Mio. Fluggäste. Die Fluggastdaten (Passenger Name Records, PNR) werden mit den Daten aus der Fahndungsdatenbank INPOL und dem Grenzfahndungsdatenbestand, dem Schengener Informationssystem, dem EU-Visa-Informationssystem und der Datei über gestohlene und verlorene Reisedokumente (Stolen & Lost Travel Documents, SLTD) von Interpol abgeglichen. Festgestellt wurden 377.363 „technische“ Treffer, also Übereinstimmungen bei einzelnen Datenpunkten (2022: 441.608). Zahl erfasster Flugpassagierdaten steigt weiter an weiterlesen
Abschiebungen zu jedem Preis
Im Jahr 2023 wurden 16.430 Personen aus Deutschland abgeschoben, davon 13.477 auf dem Luftweg. Normale Linienflüge sind dabei nur noch in knapp der Hälfte der Fälle das Standardmittel, um Menschen außer Landes zu schaffen. Für die andere Hälfte organisierte die Bundespolizei 198 sogenannte Sammelchartermaßnahmen mit 6.447 rechtlich Ausreise-pflichtigen.[1] Hierbei wurden Menschen aus bis zu acht Bundesländern in einem Flug zusammengeführt. 50 der Flüge steuerten zwei Zielstaaten an, zum Beispiel erst Nordmazedonien und dann Serbien. Durch beide Maßnahmen sollen Abschiebungen insgesamt effizienter werden. Abschiebungen zu jedem Preis weiterlesen
Europäische Polizeikooperation bei der Fußball-EM
Mit der Errichtung des „International Police Cooperation Center“ (IPCC) am 10. Juni in Neuss wurde die Zentrale für internationale Polizeikooperation bei der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland eingeweiht. Dort sind 230 Beamtinnen und Beamte aus anderen europäischen Ländern eingesetzt, um an der Erstellung eines ständig aktualisierten Lagebilds zur Sicherheit der EM mitzuwirken. Bei der EM in den Niederlanden 2020 waren im IPCC lediglich 40 Verbindungsbeamt*innen eingebunden. Während das IPCC damals direkt bei Europol in Den Haag angesiedelt war, ist Europol diesmal lediglich mit Expert*innen für Sportwettbetrug, Cyber-Crime, Betrugsdelikte und organisierten Diebstahl im IPCC vertreten. Neben Fußball-Hooligans und Terrorismus wird in diesen Feldern die größte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit während der EM gesehen. Europäische Polizeikooperation bei der Fußball-EM weiterlesen
Frontex wirft jetzt Rettungsinseln ab
Seit 2017 hat Frontex im zentralen Mittelmeer einen Luftüberwachungsdienst aus gecharterten Flugzeugen und Drohnen aufgebaut. Einige davon sind inzwischen auch mit Rettungsmitteln ausgerüstet. Das belegt ein Einsatz vom 24. März im zentralen Mittelmeer, bei dem ein Flugzeug im Auftrag der EU-Grenzagentur offenbar erstmals ein solches Rettungsmittel abgeworfen hat. Der in Panama registrierte Tanker „Vault“ hatte 138 Menschen an Bord genommen, deren mit beschädigtem Motor treibendes Boot von einem Flugzeug der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch entdeckt wurde.[1] Als das Boot in Schieflage geriet, waren einige der Insassen in Panik ins Wasser gesprungen. Daraufhin warf das für Frontex betriebene Charterflugzeug „Eagle 1“ die Rettungsinsel ab. Die Maßnahme habe „eine entscheidende Rolle“ bei der Rettung geleistet, sagte ein Frontex-Sprecher. Überlebende erklärten jedoch, drei Männer aus Syrien, Äthiopien und Bangladesch seien bei dem Schiffbruch ertrunken. Frontex wirft jetzt Rettungsinseln ab weiterlesen
Antifa-Prozess in Budapest
Das Berufungsgericht in Budapest hat eine gegen Tobias E. verhängte Haftstrafe Ende Mai deutlich reduziert. Als Mitglied einer „linksextremistischen Organisation junger Erwachsener“ war der aus Berlin stammenden 29-jährige deutsche Staatsangehörige im Januar zu drei Jahren Haft und einer fünfjährigen Einreisesperre verurteilt worden. Davon bleiben nun ein Jahr und zehn Monate Haft. E. hatte sich im Januar zu dem Vorwurf der Mitgliedschaft schuldig bekannt und kam deshalb um ein Hauptsacheverfahren herum. Dabei geht es um Vorwürfe im Rahmen des „Tages der Ehre“, bei dem zwischen dem 9. und 11. Februar 2023 in fünf Fällen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten angegriffen wurden. Vier Personen wurden dabei nach Angaben der Polizei schwer, fünf weitere leicht verletzt. Antifa-Prozess in Budapest weiterlesen
70 Prozent mehr europaweite Fahndungen
Die Zahl der Einträge deutscher Behörden im Schengener Informationssystem (SIS) stieg im Vergleich zum Jahr 2022 um rund 70 Prozent an.[1] Grund dafür sind drei neue Verordnungen von 2018, die seit März 2023 verpflichtend umgesetzt werden müssen. Demnach müssen auch Rückkehrentscheidungen abgelehnter Asylsuchender im SIS vermerkt werden. Zum 1. Januar 2024 waren hierzu aus Deutschland 56.288 Personen nach Artikel 3 der Verordnung über die Nutzung des SIS für Abschiebungszwecke[2] ausgeschrieben. Den größten Bestand deutscher Fahndungen im SIS bilden Einträge nach Artikel 24 der Verordnung zur Nutzung des SIS für Grenzkontrollen,[3] die sich 2023 um rund ein Sechstel auf 70.432 erhöht hat. Sie dienen der Einreise- und Aufenthaltsverweigerung. 70 Prozent mehr europaweite Fahndungen weiterlesen
Bundesweit mobile Gesichtserkennung aus Sachsen
Die Polizei in Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Baden-Württemberg nutzt verdeckte Kameras am Straßenrand, um vorbeifahrende Verdächtige zu observieren.[1] Damit werden die Bundesländer in Amtshilfe aus Sachsen in Verfahren wegen bandenmäßiger Eigentumskriminalität unterstützt. Soweit bekannt stehen die Anlagen dabei an sächsischen Straßen. Die Polizei will dadurch etwa ermitteln, welche Fahrzeuge Personen von Interesse benutzen. Die Aufnahmen werden dazu mit Referenzdatenbanken abgeglichen, die Bilder aus erkennungsdienstlichen Maßnahmen enthalten.
Die Verwendung einer solchen Observationstechnik war im April aus Berlin bekannt geworden. Anfang Juni teilte die Polizeidirektion (PD) Hannover dazu weitere Informationen mit. Demnach handelt es sich um eine mobile Variante des „Personen-Identifikations-Systems“ (PerIS), das die Polizeidirektion Görlitz mit der Firma OptoPrecision aus Bremen entwickelt hat. Mit fest installierten Kamerasäulen nimmt das PerIS an der Grenze zu Polen Gesichtsbilder und Kennzeichen auf. Bundesweit mobile Gesichtserkennung aus Sachsen weiterlesen
„Intelligente“ Videoüberwachung bei der Polizei
Release-Veranstaltung für das CILIP-Heft 134 zum Thema „Forschung und Innovation“
Seit den 1990er Jahren forscht auch die deutsche Polizei zu Anwendungen „intelligenter“ Bildverarbeitung mit dem Ziel, automatisiert Muster in Fotos oder Videoaufnahmen zu erkennen. 2006 testete das Bundeskriminalamt erstmals den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware in Echtzeit am Mainzer Hauptbahnhof. Zwei Jahre ging das Gesichtserkennungssystem zur nachträglichen Suche in den knapp sechs Millionen Lichtbildern des erkennungsdienstlichen Datenbestandes in Betrieb.
Mittwoch, 19. Juni, 19.30 Uhr
Aquarium, Skalitzer Straße 6, Berlin
U-Bhf Kottbusser Tor
Weitere Pilotprojekte für den Einsatz in Echtzeit am Berliner Südkreuz und in Sachsen folgten. Soweit bekannt, wird die Technik auf fragwürdiger Rechtsgrundlage eingesetzt. Entsprechend laut sind die Rufe nach gesetzlichen Befugnissen, und mit der kürzlich verabschiedeten EU-Verordnung zur Regulierung Künstlicher Intelligenz wurden statt eines Verbotes umfassende Ausnahmeregelungen für einen möglichen Einsatz geschaffen.
Der Einsatz von Software zur Erkennung von Bewegungsmustern oder Gegenständen in den Datenströmen von Überwachungskameras wurde in mehreren Bundesländer hingegen bereits vor einigen Jahren autorisiert. Aktuell testet die Polizei in Mannheim und Hamburg zusammen mit einem ehemals wehrtechnischen Forschungsinstitut ein System zur Erkennung „verdächtiger“ Verhaltensmuster.
Die Geschichte und Gegenwart der „intelligenten“ Videoüberwachung und ihres polizeilichen Einsatzes sind Thema der Veranstaltung zum Release des CILIP-Heftes 134 zu „Forschung und Innovation“.
Jens Hälterlein zeichnet in der Veranstaltung die Entwicklung der biometrischen Gesichtserkennung nach. Dabei nimmt er die Versprechen der Sicherheitsindustrie kritisch unter die Lupe und zeigt, dass nicht nur mangelnder Datenschutz und die Verletzung des Rechts auf Privatsphäre ein Problem sind, sondern auch die diskriminierenden Effekte der Technologie.
Tabea Louis berichtet von der algorithmischen Videoüberwachung in Hamburg. Sie geht der Frage nach, wie das teure Pilotprojekt am Hansaplatz und die ihm technisch eingeschriebenen Normen im Kontext von Aufwertungspolitik und Gentrifizierung die Exklusion und Verdrängung marginalisierter Bevölkerungsgruppen verschärft.
Veranstaltet vom Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V./ Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP
Beitragsbild: Vom PerIS-System in sachsen aufgenommener Einbruchsverdächtiger (Polizei Sachsen).
Biometrische Gesichtserkennung – Technologischer Solutionismus für mehr „Sicherheit“
von Jens Hälterlein
Der polizeiliche Einsatz von biometrischer Gesichtserkennung (BG) ist eine der umstrittensten Anwendungen Künstlicher Intelligenz (KI). Im Kern geht es darum, ob dem Sicherheitsversprechen der Technologie oder der von ihr ausgehenden Gefahr der Einschränkung von Grund- und Bürgerrechten eine größere Bedeutung beigemessen wird. Die Annahme einer hohen Leistungsfähigkeit der eingesetzten Systeme muss relativiert werden – und damit auch das Sicherheitsversprechen. Zudem hat der Einsatz von BG diskriminierende Effekte.
Nachdem die Europäische Kommission 2021 einen ersten Vorschlag für eine Regulierung von KI-Anwendung auf EU-Ebene vorgelegt hatte (Artificial Intelligence Act),[1] kam es im Zuge des Gesetzgebungsverfahren zu einer intensiven Kontroverse. Im Sommer 2023 machte das Europäische Parlament umfangreiche Änderungsvorschläge, um den Grundrechteschutz zu stärken. Bestimmte KI-Praktiken sollten grundsätzlich verboten werden, da sie nicht mit den in der EU geltenden Grundrechten und Werten vereinbar wären. Zu den genannten Praktiken gehört auch die biometrischer Gesichtserkennung (BG) in öffentlichen Räumen (Art. 5). Dies entsprach der Forderung eines Bündnisses von zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie einer Viertelmillion EU-Bürger*innen, die ihre Unterstützung der von mehr als 80 NGOs organisierten Kampagne Ban Biometric Mass Surveillance in Europe geäußert hatten. In der (vorläufigen) Kompromissfassung vom Dezember 2023, auf die sich das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission einigten, werden jedoch Ausnahmen von einem allgemeinen Verbot der Massenüberwachung definiert, bei denen Sicherheitsinteressen die Risiken der Technologie für Grundrechte überwiegen würden: wenn der Einsatz von BG zur Echtzeit-Überwachung verwendet wird, um terroristischen Anschläge zu verhindern oder nach vermissten Personen zu suchen, aber auch, wenn BG eingesetzt werden soll, um im Rahmen von Strafverfahren Tatverdächtige zu ermitteln.[2] Biometrische Gesichtserkennung – Technologischer Solutionismus für mehr „Sicherheit“ weiterlesen