Archiv der Kategorie: CILIP 118-119

Innere Sicherheit & Soziale Bewegungen (Juni 2019)

EU-Grenzregime im Mittelmeer – Zwischen Gnadenakten und kalkuliertem Sterbenlassen

von Britta Rabe

Das „Watch the Med Alarmphone“ bietet seit vier Jahren eine Telefonhotline rund um die Uhr für Geflüchtete in Seenot auf dem Mittelmeer.[1] Wir erlebten in unserer täglichen Arbeit den Anstieg der Überfahrten in der Ägäis von der Türkei auf die griechischen Inseln 2015/16, die dramatischen Überfahrten im zentralen Mittelmeer 2017 und die darauf folgende Kriminalisierung der zivilen Rettungsflotte sowie den Anstieg der Fluchten von den Stränden Marokkos nach Spanien im Jahr 2018.

Die Überfahrten von der Türkei nach Griechenland waren als Folge des Erdogan-Deals seit März 2016 deutlich gesunken. EU-Grenzregime im Mittelmeer – Zwischen Gnadenakten und kalkuliertem Sterbenlassen weiterlesen

Kontrolle am ‚Tagelöhnermarkt‘ – Rassismus und die Versicherheitlichung des Sozialen

von Lisa Riedner

Mit einem neuen Gesetz möchte die Bundesregierung verbieten, „Arbeitskraft als Tagelöhner im öffentlichen Raum aus einer Gruppe heraus in einer Weise anzubieten, die geeignet ist, Schwarzarbeit oder illegale Beschäftigung zu ermöglichen“.[1] Das Verbot der „Tagelöhnerbörsen“ soll mit Platzverweisen und Bußgeldern durchgesetzt werden.

Auch darüber hinaus soll das „Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch“ die Kompetenzen des Zolls stark erweitern und außerdem das Recht auf Kindergeld für EU-Bürger*innen einschränken. Kontrolle am ‚Tagelöhnermarkt‘ – Rassismus und die Versicherheitlichung des Sozialen weiterlesen

Polizieren der Armen – Die Polizei an den Rändern der Gesellschaft

Von Norbert Pütter

Längst vorbei oder weit entfernt von der Bundesrepublik sind die Einsätze, die die bewaffnete Staatsmacht gegen rebellierende Arme führt. „Arme“ sind heute nicht mehr diejenigen, deren Proteste in Form von „Hungerunruhen“ oder Marktprotesten durch Polizei (und Militär) niedergeschlagen werden müssen. Mit der Form der Armut, haben sich auch die Formen des polizeilichen Umgangs mit den Armen gewandelt.

Was „Armut“ ist, hängt ab vom zugrunde gelegten Armutsbegriff: absolute und relative, bekämpfte und verschämte, objektive und subjektive, Einkommens- oder Vermögensarmut … Polizieren der Armen – Die Polizei an den Rändern der Gesellschaft weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Martin Lemke war im Jahre 2005 Vorsitzender der Holtfort-Stiftung, die der CILIP-Redaktion damals ihren Preis verlieh. Lemke machte uns das wohl größte Lob, das man einer linken Zeitschrift machen kann: Schon als Student habe er CILIP abonniert und „die Zeitschrift als Quelle regelrecht ausgeplündert, um Thesen und Polemiken in Flugblättern und Aufrufen mit Fakten, wissenschaftlichen Argumenten und konkreten Zahlen zu untermauern.“ An Ostern 2019 ist der politische Strafverteidiger aus Hamburg nach längerer Krankheit gestorben. An unserer Konferenz zum 40jährigen Bestehen von CILIP konnte er nicht mehr teilnehmen. Die Beiträge und Debatten hätten ihm sicher zugesagt.

Unter dem Motto „Innere Sicherheit und soziale Bewegungen“ diskutierten am 7./8. Dezember letzten Jahres rund 200 Personen über eine breite Palette von Themen – über das Polizieren der Armut und die politische Ökonomie der Inneren Sicherheit, über institutionellen Rassismus und über das EU-Grenzregime, über Demos und Ausnahmezustände, über digitale Kontrolle durch die und über die demokratische Kontrolle der „Sicherheitsbehörden“. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Inszenierung des Ausnahmezustands beim G20-Gipfel in Hamburg: Interview mit Peter Ulrich und *aze

von Christian Meyer

Es war einer der größten und teuersten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik. Und dennoch entpuppte sich das Ziel einer komplett kontrollierten Stadt als unerreichbar. Die Berliner Gruppe *andere zustände ermöglichen (*aze) und der Soziologe Peter Ullrich sprechen über Riots, mediale Polarisierung und Grenzen des Rechtsstaats. Inszenierung des Ausnahmezustands beim G20-Gipfel in Hamburg: Interview mit Peter Ulrich und *aze weiterlesen

Europäischer Polizeikongress 2019: Die Kommodifizierung von Sicherheit

von Stephanie Schmidt und Roman Thurn

Am 19. und 20. Februar 2019 richtete die überregionale und private Zeitschrift für den öffentlichen Dienst BehördenSpiegel den 22. Eu­ropäischen Polizeikongress (EPK) aus. Unter dem Titel „Fokus Europa: Migration – Integration – Sicherheit“ fanden sich Vertreter *innen aus der Politik, den Sicherheitsbehörden und den in diesem Feld tätigen Unternehmen ein.

Das titelgebende Thema war jedoch nicht überall auf dem Kongress präsent. Vielmehr handelte es sich weitgehend um eine Messe, auf welcher Technologien für Sicherheitsbehörden, vom elektrischen Polizeiauto („lautlos und einsatzbereit“) bis hin zur neuesten Software der Firma IBM zur Erstellung von Netzwerkanalysen präsentiert wurden. Neben der Messe, Inputvorträgen und Podiumsdiskussionen fanden auch diverse Panels im kleineren Rahmen statt. Dort wechselten sich Vorträge von tendenziell akademischem Charakter mit solchen ab, welche als Werbevorträge für Soft-, Hard- und – so ließe sich in Bezug auf Rüstungsgüter sagen – hardest ware klassifiziert werden können. Europäischer Polizeikongress 2019: Die Kommodifizierung von Sicherheit weiterlesen

Kontrolle von Polizeihandeln: Schwierige Wege führen selten zum Ziel

von Anna Luczak

Im Rahmen der Konferenz „40 Jahre Bürgerrechte & Polizei/CILIP“ nahm Rechtsanwältin Anna Luczak Stellung zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der justiziellen Kontrolle polizeilichen Handelns. Wir dokumentieren ihren Vortrag in überarbeiteter Form.

Wie steht es aktuell um die Kontrolle der Polizei? Mein Vorredner, Philipp Krüger, Sprecher der Themenkoordinationsgruppe Polizei und Menschenrechte von Amnesty International, hat zu Polizeigewalt referiert und dazu, wie eine Forderung an eine effektive Kontrolle hauptsächlich in Bezug auf strafrechtlich relevante Vorfälle lauten könnte. In meiner Praxis ist Polizeigewalt nur einer von vielen Fällen, in denen polizeiliches Handeln rechtswidrig ist oder rechtswidrig sein kann. Denn es gibt natürlich auch polizeiliches Handeln, das gegen das Gesetz verstößt und insofern rechtswidrig ist, das aber nicht strafrechtlich relevant ist und auch nicht mit Gewaltanwendung einhergeht. Ich will das am Beispiel des Umgangs der Polizei mit Versammlungen erläutern.

Dazu möchte ich zuerst auf das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1985 verweisen. Das ist ein Urteil, auf das sich Anwältinnen oder Anwälte immer sehr gern beziehen, weil dort die Grundsätze der Versammlungsfreiheit hochgehalten werden. In dem Ur­teil heißt es, dass es zu den wichtigsten Grundrechten gehört, wenn sich Menschen zusammen finden und ihre Meinung äußern. Das gilt auch auf der Straße, und das wird in dem Urteil sehr poetisch ausgeführt: Kontrolle von Polizeihandeln: Schwierige Wege führen selten zum Ziel weiterlesen

Notstand und soziale Bewegungen: Der Ausnahmezustand in Frankreich 2015-2017

von Fabian Jobard

Von November 2015 bis November 2017 befand sich Frankreich im Ausnahmezustand. Die Notstandsgesetze erlaubten der Polizei u.a., Wohnungen von Aktivist*innen zu durchsuchen und Hausarreste zu verhängen. Wie ist die Staatsgewalt mit den Notstandsbefugnissen umgegangen? Eine Bilanz. 

„Frankreich ist das Land des Ausnahmezustands und der Polizeiwillkür, der Islamophobie und des Rechtsnationalismus, der Ausländerghettos und der Massenarbeitslosigkeit“, hieß es 2016 in einem Leitartikel der taz.[1] Nach den von IS-Terroristen verübten Massakern in Paris und Saint-Denis im November 2015 hatte der damalige Staatspräsident François Hollande den Ausnahmezustand ausgerufen, der dann vom Parlament mehrmals verlängert wurde und erst im November 2017 außer Kraft trat. Ein Jahr später, am ersten Dezember-Wochenende 2018 forderten mehrere französische Polizeiorganisationen, den Ausnahmezustand wiedereinzuführen – diesmal vor dem Hintergrund der Demonstrationen der „gilets jaunes“ (Gelbwesten). Notstand und soziale Bewegungen: Der Ausnahmezustand in Frankreich 2015-2017 weiterlesen

Eine Zensur findet doch statt: Das Verbot der Internetplattform linksunten.indymedia.org

von Angela Furmaniak und Kristin Pietrzyk

Im Kampf gegen eine politisch unliebsame Internetplattform ignoriert das Bundesministerium des Innern nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit, sondern einmal mehr auch das Gebot der Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten.

Seit 2009 existierte die Internetplattform „linksunten.indymedia.org“ als eigenständiges Independent Media Center (IMC) innerhalb des Indymedia-Netzwerkes. Zunächst als südwestdeutscher Ableger der Open-Posting-Plattform gedacht, entwickelte sich „linksunten“ – wie es genannt wurde – binnen weniger Jahre zu einer der wichtigsten Online-Nachrichten- und Diskussionsplattformen für linke Ideen in Deutschland. Weithin bekannt wurde die Webseite durch die Veröffentlichung interner Diskussionen der Deutschen Burschenschaft zum „Ariernachweis“ und die Leaks von internen AfD-Chatkommunikationen. Darüber hinaus fanden sich aber auch Aufrufe zu Demonstrationen, Veranstaltungsankündigungen, Positionspapiere linker Gruppen, aber auch Selbst­bezichtigungsschreiben zu Anschlägen und Anleitungen zum Bau von Brandsätzen. „linksunten“ wurde wegen dieses vielfältigen Angebots bald auch Quelle für Recherchen von bürgerlichen Journalist*innen und Datenbank für Antifa-Recherchen oder rechte Übergriffe auf Geflüchtete, deren Unterkünfte oder Andersdenkende. Eine Zensur findet doch statt: Das Verbot der Internetplattform linksunten.indymedia.org weiterlesen

Sand im Getriebe: Kämpfe mit dem und um das Versammlungsrecht

von Michael Plöse

Zentrales Merkmal des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit ist der staatsfreie, unreglementierte Charakter von Protesten. Ihnen steht ein in den 50er Jahren verhaftetes, regulierendes und sanktionierendes Versammlungsrecht gegenüber, dessen Vollstreckungsorgane auf dem aktuellen Stand der Überwachungstechnik sind.

Schuhe werden im Internet bestellt, Filme gestreamt, Meinungen gepostet, Petitionen geklickt, aber demonstriert wird immer noch auf der Straße. Auch im Zeitalter der Digitalisierung ist das Bedürfnis nach physischer Präsenz auf der Straße nach wie vor hoch. Die Anzahl angemeldeter und durchgeführter Versammlungen hält sich seit Ende der 90er Jahre auf einem anhaltend hohem Niveau (für Berlin, vgl. Tabelle). Sand im Getriebe: Kämpfe mit dem und um das Versammlungsrecht weiterlesen