Archiv der Kategorie: Artikel

Artikel im Heft widmen sich dem jeweiligen Schwerpunkt sowie weiteren Themen. Von aktuellen Ausgaben stellen wir gewöhnlich drei ausgewählte Artikel sofort online.

Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst

von Jacqueline Andres

Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht.

In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.[1] Diesen gewalttätigen Ein­sätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden[2] – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.[3] Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst weiterlesen

Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen

von Chris Jones und Yasha Maccanico

Seit dem Amsterdamer Vertrag 1999 dienten verschiedene Krisen als Vorwand für den Ausbau der EU-Sicherheitsstrukturen. Sie haben die Macht der EU-Repressionsbehörden erweitert. Politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen sind weiter an der Tagesordnung und verschärfen sich mit der jüngsten „Migrationskrise” an den Ostgrenzen der EU.

1992 machte der Vertrag von Maastricht aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union. Es folgten Schritte zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (JI): zur Einrichtung von Europol (für die erste Maßnahmen bereits vor Maastricht ergriffen wurden), zu Auslieferung und Korruption, Visumspflicht, Aufenthaltstitel u.v.m. Hinter den Kulissen führten die Mitgliedstaaten im Rat vertrauliche Gespräche, um die Koordinierung zu verbessern und gemeinsame Aktivitäten zu verstärken, einschließlich einer Partnerschaft zwischen der EU und den USA. Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen weiterlesen

Die Vergeheimdienstlichung der EU: Informelle Gruppen rund um Europol

Die Europäische Union hat keine Kompetenz zur Koordination von Geheimdiensten. Dessen ungeachtet kooperieren ihre Organe auf verschiedene Weise mit entsprechenden Behörden aus den Mitgliedstaaten. In dieses undurchsichtige Netz ist auch die EU-Polizeiagentur eingebunden. Der neue Fokus auf „Gefährder“ trägt ebenfalls geheimdienstliche Züge.

Mit dem Vertrag von Lissabon über die Arbeitsweise der EU (AEUV) wurde auch die Rechtsetzung im Bereich Justiz und Inneres in das EU-Gesetzgebungsverfahren übertragen. Bis dahin war die Innen- und Justizpolitik ausschließlich Gegenstand der intergouvernementalen Zusammenarbeit („dritte Säule“) mittels einstimmiger Ratsbeschlüsse. Ausschließlich die EU-Kommission hat das Recht, legislative Initiativen und Maßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu initiieren. Darüber entscheiden anschließend der Rat der EU (also die Regierungen der Mitgliedstaaten) und das Parlament.

Ausdrücklich keine Kompetenz hat die EU für Geheimdienste. Gemäß Artikel 4 Absatz 2 AEUV bleibt die „nationale Sicherheit“, für welche die Dienste zuständig sind, allein den Mitgliedstaaten vorbehalten. Stets wird deshalb in EU-Dokumenten die Trennung zwischen „strafverfolgungsrelevanten“ und „nachrichtendienstlichen“ Tätigkeiten betont. Die Vergeheimdienstlichung der EU: Informelle Gruppen rund um Europol weiterlesen

Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle

von Jane Kilpatrick

Seit 2004 wurden die Ressourcen und das Mandat der EU-Grenzagentur durch vier aufeinanderfolgende Verordnungen jeweils beträchtlich erweitert. Aber es folgten keine angemessenen Mechanismen, um diese mit rechtlicher oder politischer Rechenschaftspflicht auszugleichen.

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten wurde im Mai 2005 gegründet.[1] 17 Jahre später wurden Aufgabenbereich, Befugnisse und Finanzen von Frontex – oder der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCG), wie sie inzwischen umbenannt wurde – mehrfach ausgeweitet, sie verfügt nun über den größten Haushalt aller EU-Agenturen. Die jüngste Verordnung von 2019 wurde vom EU-Parlament in einem Rekordzeitraum von sechs Monaten verabschiedet, obwohl Frontex etwa beschuldigt wird, in Pushbacks an den See- und Landgrenzen verwickelt zu sein.[2] Im Jahr 2020, unter neuem Mandat, wurde dies durch eine gemeinsame Recherche von Bellingcat, Lighthouse Reports, Spiegel, ARD und TV Asahi bestätigt.[3] Plötzlich schienen Strukturen für die Rechenschaftspflicht zu entstehen, aber bis heute ist unklar, ob sie Frontex wirklich dazu verpflichten, sinnvolle Änderungen vorzunehmen. Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle weiterlesen

(Ver)wachsende Datenbanken: Digitale Grenzen als Integrationsprojekt

von Eric Töpfer

Die Zahl der großen IT-Systeme der EU zur Kontrolle von Grenzen, Migration und Kriminalität wird sich in den kommenden Jahren verdoppeln. Zugleich werden sie mit dem Ziel, die Datenbanken interoperabel zu machen, immer enger zusammengeführt. Allen Widerständen zum Trotz sind die Kommission und ihre Agenturen die Gewinner dieser Entwicklung. Verlierer sind insbesondere jene, die nicht das Privileg der Unionsbürgerschaft haben.

Seit 27 Jahren brummen in einem Bunker bei Straßburg die Server des Schengen-Informationssystems (SIS). Gedacht war das polizeiliche Fahndungssystem als „Ausgleichsmaßnahme“ für den befürchteten Sicherheitsverlust durch den Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten. Sein Personendatenbestand wird seit jeher durch Ausschreibungen von Nicht-EU-Bürger*innen zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung dominiert. 2003 gesellte sich die zentrale Einheit für Eurodac hin­zu, ein automatisches Fingerabdruckidentifizierungssystem (AFIS) zur biometrischen Erfassung von Asylsuchenden und irregulären Migrant*innen. Zwar dient Eurodac primär der Umsetzung des Dublin-Regimes und soll sicherstellen, dass Asylanträge im Land der Ersteinreise bearbeitet werden. Da die Verordnung von 2000 es den teilnehmenden Staaten aber freistellte, auch Menschen zu erfassen, die im Hinterland beim unerlaubten Aufenthalt erwischt werden, zielte Eurodac von Anfang an auch auf die Kontrolle irregulärer Migration. Im Jahr 2011 nahm das Visa-Informationssystem (VIS) seinen Betrieb auf, das der alphanumerischen und biometrischen Registrierung von Menschen dient, die Anträge auf EU-Kurz­zeitvisa stellen. Etwa 80 Millionen Personendatensätze waren Ende 2020 in den drei Systemen erfasst: 73 Mio. im VIS,[1] 5,8 Mio. in Eurodac[2] und etwa 965.000 im SIS.[3] Bereits seit Mitte der 2000er Jahre plant die EU den weiteren Ausbau von SIS, Eurodac und VIS, den Aufbau neuer Datenbanken und die enge Verschränkung all dieser Systeme.[4] (Ver)wachsende Datenbanken: Digitale Grenzen als Integrationsprojekt weiterlesen

Die neue Europol-Reform: Operative Befugnisse ohne Rechenschaftspflicht

von Chloé Berthélémy und Jesper Lund

Die Zeiten, in denen die EU-Agentur für die Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung nur den Mitgliedstaaten unterstellt war, sind vorbei. Die jüngste Reform des Europol-Mandats bestätigt den Trend, ihr mehr exekutive Befugnisse und Autonomie zu geben.

Ihren Vorschlag für die jüngste Europol-Reform hat die Europäische Kommission im Dezember 2020 zusammen mit einer neuen Agenda zur Terrorismusbekämpfung veröffentlicht.[1] Die Dokumente belegen ein ehrgeiziges Projekt der europäischen operativen Sicherheits-zusammenarbeit. Einst wurde Europol als „unfähig, Schaden anzurichten“,[2] bezeichnet. Jetzt soll die Agentur neue unabhängige Befugnisse erhalten und große Datenmengen sammeln, verarbeiten und mit nationalen Behörden und privaten Parteien teilen dürfen. Ohne Rechenschaftspflicht und angemessene rechtliche Garantien sollen diese quasi-operativen Befugnisse eingeführt werden. Die neue Europol-Reform: Operative Befugnisse ohne Rechenschaftspflicht weiterlesen

Blaue Gefühlswelten: Emotion und Affekt digitaler Polizeiarbeit

von Ben Hundertmark

In sozialen Netzwerken beteiligen sich Polizeibehörden an der Gefühlsaufladung ihrer Institutionen: Mit humoristischen und personalisierten Kommunikationsangeboten suchen sie den Kontakt zu Bürger*innen. Das Verhältnis zwischen staatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft wird im digitalen Raum neu verhandelt.

Im Januar 2020 pointierte Marcus da Gloria Martins, ehemaliger Pressesprecher der Polizei München, bei der Vortragsreihe TEDx TALKS ein Dilemma polizeilicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken:

„Social Media funktioniert nur mit Emotionen, nur. Ganz im Ernst: Finden Sie uns wahnsinnig emotional? Nein, oder? … Und dann müssen wir Humor? Dann müssen wir Emotionen? Das ist sehr schwierig“[1]

Einerseits sind Polizeibehörden in Deutschland an rechtliche Grundsätze der Neutralität, Sachlichkeit und Richtigkeit gebunden, welche auch im Kontext von Kommunikationsangeboten an Bürger*innen im digitalen Raum gelten. Andererseits wollen sie eben dort Sichtbarkeit, Ansprechbarkeit und Präsenz vermitteln. Dafür müssen sie sich im Wetteifern um Aufmerksamkeit und Reichweite den Kommunikationskulturen und sozioalgorithmischen Funktionslogiken sozialer Netzwerke anpassen, was die kontinuierliche (Re-)Produktion von Emotionen sowie das Hervorrufen affektiver Reaktionen bei adressierten Nutzer*innen erforderlich macht. Blaue Gefühlswelten: Emotion und Affekt digitaler Polizeiarbeit weiterlesen

Kleine Geschichte der Bundespolizei: Paramilitärischer Grenzschutz bis „Polizei des Bundes“

von Dirk Burczyk

Die Entwicklung des Bundesgrenzschutzes und der späteren Bundespolizei ist eng eingewoben in die Geschichte der Bundesrepublik – vom Ringen um die staatliche Souveränität über die diversen Konjunkturen der „Inneren Sicherheit“ bis zur Ausdehnung von Handlungsfähigkeit und Ressourcen des Bundes zulasten der Länder.

Die Geschichte des Bundesgrenzschutzes (BGS) beginnt 1948 mit den Beratungen im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland. Eingeführt wurde mit dem Art. 87 GG die Kompetenz des Bundes zum Aufbau eines Bundesgrenzschutzes. Doch schon die Debatten vor der Vorlage eines Bundesgrenzschutzgesetzes zeigten, dass es nicht nur allein um den Schutz der Grenze zur DDR und ČSSR ging. So träumte der FDP-Abgeordnete Max Becker schon 1950 davon, der Bundesgrenzschutz könne „Grundlage einer anständigen Bundespolizei selbst sein“.[1] Anlass war eine Debatte des Bundestages zur „Polizeifrage“. Dabei war zwischen den Fraktionen weitgehend unumstritten, dass es in Reaktion auf die Aufstellung kasernierter Verbände der Volkspolizei der DDR und angeblicher Überfälle von FDJ-Gruppen auf das Gebiet der BRD eines bewaffneten Grenzschutzes bedürfe. So sollte eine militärische Eskalation an der innerdeutschen Grenze durch das Einschreiten der alliierten Westmächte verhindert werden und gleichzeitig auch ein Stück staatlicher Souveränität der jungen BRD erreicht werden. Und schließlich war es dem Bundeskanzler ein persönliches Anliegen, polizeiliche und keine militärischen Kräfte einzusetzen: die Grenze sollte als inner-deutsche und damit polizeiliche Angelegenheit behandelt werden.[2] Kleine Geschichte der Bundespolizei: Paramilitärischer Grenzschutz bis „Polizei des Bundes“ weiterlesen