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Blockieren, Aufschieben, Ignorieren: Disziplinarmaßnahmen gegen rechtsextreme Polizist*innen

von Laura Wisser

Allein im Jahr 2020 wurden mindestens zehn Menschen in der Bundesrepublik aus rechtsextremen Motiven ermordet.[1] Zeitgleich reiht sich ein rechtsextremer Polizei-Skandal an den nächsten. Rechtsextreme sind immer gefährlich. Aber ganz besonders dann, wenn sie Polizist*innen sind. Welche Gegenmaßnahmen eröffnet das Disziplinarrecht?

Ku-Klux-Klan, NSU 2.0, der Hannibal-Komplex oder das rechtsextreme Netzwerk in Nordrhein-Westfalen: Die Regelmäßigkeit, mit der rechtsradikale Strukturen, rassistische oder antisemitische Vorkommnisse in der Polizei bekannt werden, ist besorgniserregend.[2] Die deutsche Polizei hat ein Problem mit Rechtsextremen in den eigenen Reihen.[3] Das ist aus verschiedenen Gründen problematisch, vor allem deshalb, weil gut ausgebildete, bewaffnete Menschenfeinde mit Zugang zu staatlichen Strukturen ein Sicherheitsrisiko sind. Für einzelne Bürger*innen, die nicht in das rechtsextreme Weltbild passen, für die Gesellschaft insgesamt und den demokratischen Staat als solchen. Allein aus einem Interesse an Rechts­staatlichkeit und der Integrität staatlicher Organisationen müssen Behörden dazu in der Lage sein, rechtsextreme Polizist*innen aus dem Dienst zu entfernen. Obwohl Gesetzeslage und Rechtsprechung ein ent­schiedenes Vorgehen ermöglichen,[4] agieren vielen Behörden zögerlich. Vorfälle werden lange ignoriert, Verfahren aufgeschoben und eine umfassende Information der Öffentlichkeit blockiert.

Ablauf eines Disziplinarverfahrens

Die normativen Ausgestaltungen des Arbeitsverhältnisses von Polizist­*innen, zu denen auch das Disziplinarverfahren gehört, finden sich im Beamtenrecht. Im Fall von Bundespolizist*innen sind sie im Bundesdisziplinargesetz (BDG) geregelt, für Landespolizist*innen gelten die jeweiligen Landesdisziplinargesetze. Die Grundstruktur der Verfahren ist in etwa gleich: Ein Disziplinarverfahren beginnt, wenn der Verdacht eines Dienstvergehens gegeben ist. Dann muss gemäß § 17 BDG ein Disziplinarverfahren von Amts wegen eingeleitet werden. Die höheren Dienstbehörden sollen laut § 17 Abs. 1 BDG sicherstellen, dass diese Pflicht erfüllt wird; sie können das Verfahren jederzeit an sich ziehen. Der*die fragliche Beamt*in ist nach der Einleitung des Verfahrens gem. § 20 BDG zu unterrichten, zu belehren und anzuhören. Bei den Ermittlungen können nach §§ 24 ff. BDG Beweise erhoben, Zeug*innen und Sachverständige angehört und die Herausgabe von Unterlagen, gegebenenfalls sogar Durchsuchungen oder Beschlagnahmungen angeordnet werden; ein Protokoll über den Ablauf der Beweiserhebung ist anzufertigen. Nach dem Ende der Ermittlungen ist dem*der Beamt*in nach § 30 BDG nochmal eine Gelegenheit zur abschließenden Äußerung zu geben. Wenn das Dienstvergehen nicht erwiesen ist oder eine Disziplinarmaßnahme aus anderen Gründen nicht angezeigt erscheint oder gar unzulässig ist, ergeht eine Einstellungsverfügung nach § 32 Abs. 1 BDG, andernfalls ergeht eine Disziplinarverfügung gemäß § 33 BDG. Der Katalog möglicher Maßnahmen ist in § 5 BDG festgelegt und umfasst den Verweis, Geldbußen, die Kürzung von Dienstbezügen, die Zurückstufung und in letzter Konsequenz auch die Entfernung aus dem Beam­t­*innen­verhältnis. Gemäß § 13 Abs. 1 BDG ist die Festlegung der Maßnahme eine Ermessensentscheidung, die aufgrund der Schwere des Dienstvergehens und des Persönlichkeitsbildes des*der Beamt*in zu erfolgen hat.

Dienstvergehen und Zumessung

Dienstvergehen können innerhalb und außerhalb der Dienstzeit begangen werden: Innerhalb, wenn ein*e Beamt*in rechtswidrig und schuldhaft ihr*ihm obliegende Pflichten verletzt; außerhalb nur dann, wenn die Pflichtverletzung besonders schwerwiegend ist.[5] Die Schwere des Dienstvergehens wird in der Rechtsprechung anhand unterschiedlicher Kriterien festgestellt, wie Häufigkeit und Dauer, Form und Gewicht der Schuld des*der Beamt*in, Beweggründe für das Verhalten und unmittelbare Folgen für den dienstlichen Bereich und für Dritte.[6]

Die Entfernung aus dem Dienst ist die schärfste Maßnahme des Diszi­plinarrechts. Sie kann nur dann vorgenommen werden, wenn die Dienstpflichtverletzung zu einem endgültigen (unheilbaren) Verlust des Vertrauens des*der Dienstherr*in oder der Allgemeinheit geführt hat.[7] Ob und inwieweit das Vertrauen beschädigt ist, ist laut Rechtsprechung „objektiv“ zu bestimmen. Entscheidend ist

„die Frage, inwieweit der Dienstherr bei objektiver Gewichtung des Dienstvergehens auf der Basis der festgestellten belastenden und entlastenden Umstände noch darauf vertrauen kann, dass der Beamte in Zukunft seinen Dienstpflichten ordnungsgemäß nachkommen wird. Entscheidungsmaßstab ist insoweit, in welchem Umfang die Allgemeinheit dem Beamten noch Vertrauen in eine zukünftig pflichtgemäße Amtsausübung entgegenbringen kann, wenn ihr das Dienstvergehen einschließlich der belastenden und entlastenden Umstände bekannt würde. Dies unterliegt uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Überprüfung. Ein Beurteilungsspielraum des Dienstherrn besteht nicht.“[8]

Manche Dienstpflichtverletzungen sind auch strafrechtlich relevant. Wenn ein*e Beamt*in rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde, endet das Beamt*innenverhältnis automatisch und qua Gerichtsurteil.[9] Will der*die Dienstherr*in ohne oder bei einem geringeren Strafurteil die Entlassung erreichen, muss in den allermeisten Ländern Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht erhoben werden.[10]

Beamt*innenpflichten und Freiheitsrechte

Auch wenn ein Verhalten nicht strafrechtlich relevant ist oder letztlich keine Strafe nach sich zieht, kann es disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Denn die Pflichten eines*einer Beamt*in umfassen mehr als bloßen Rechtsgehorsam nach § 62 Abs. 1 S. 2 BBG und § 35 Beamtenstatusgesetz (BeamStG). Neutralitäts- und Mäßigungsgebot verpflichten Beamt*innen zur politischen und weltanschaulichen Neutralität bei Aus­übung ihres Amtes. Auch außerhalb ihres Dienstes sind sie bei öffentlichen Äußerungen zu einer gewissen Mäßigung verpflichtet.[11] Natürlich dürfen auch sie sich als Privatpersonen grundsätzlich öffentlich äußern; wie alle anderen können sie sich selbstverständlich auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Grundgesetz (GG) berufen, aber eben nur besonnen, sachlich und unvoreingenommen.[12] Das heißt insbesondere, dass sie auch privat an das Menschenbild des Grundgesetzes gebunden sind.[13]

In einem engen Zusammenhang dazu steht die Treuepflicht.[14] Sie fordert von der*dem Beamt*in eine positive innere Einstellung und ein aktives Eintreten für die grundrechtlich geprägte Werteordnung des Grundgesetzes.[15] Das Bundesverfassungsgericht definierte sie 1975 im Urteil zum sogenannten Radikalenerlass als „Pflicht zur Bereitschaft sich mit der Idee des Staates, dem der Beamte dienen soll, mit der freiheitlich, demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung dieses Staates zu identifizieren“. Das heißt nicht, dass Polizist*innen zum unkritischen Bejubeln des Staates verpflichtet sind, wohl aber auf seine Grundpfeiler. Die Treuepflicht fordert vom Beamten, „dass er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren.“[16]

Die beamtenrechtlichen Treuepflichten können jedoch nicht losgelöst vom historisch-politischen Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden. Da diese maßgeblich durch den Radikalenerlass geprägt war, mahnen Teile der Rechtswissenschaft, dass die Forderung nach Staatstreue und insbesondere damit verbundene Gesinnungsprüfungen illiberal und nicht mit den Freiheitsrechten der Beamt*innen vereinbar seien.[17] Das Urteil, das das Konzept der Treuepflicht derartig ausgestaltet, und sein Entscheidungsgegenstand, der Radikalenerlass, waren Anlass und Rechtfertigung dafür, dass in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre hunderte Beamt*innen systematisch aus dem Dienst entlassen und Bewerber*innen gar nicht erst zugelassen wurden. Die Regelungen richteten sich vornehmlich gegen als „linksextrem“ stigmatisierte Lehrer*innen. Die Jahrzehnte andauernde Diskussion endete letztlich damit, dass die sogenannten Regelabfragen, die es den Dienstherr*innen erlaubte, generell und systematisch Auskünfte über Bewerber*innen und Beamt*innen beim Verfassungsschutz zu erfragen, bis 1991 in allen Bundesländern abgeschafft wurden.

1995 entschied auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zugunsten einer auf Grundlage des Radikalenerlasses entlassenen Lehrerin.[18] Dabei wurde allerdings weder das Konzept der Treuepflicht an sich, noch die Entlassung auf Grund einer Treuepflichtverletzung für grundsätzlich unzulässig erklärt.[19] Zu einer Grundsatzentscheidung sahen sich die Richter*innen explizit nicht aufgefordert, deuteten aber Zweifel an. Für den konkreten Fall stellten sie fest, dass die Entfernung aus dem Dienst unverhältnismäßig war, weil die der Klägerin zu Last gelegten Handlungen nicht genug Anhaltspunkte für ihre Verfassungsfeindlichkeit gegeben hätten und die Entfernung aus dem Dienst in Abgleich mit dem verfolgten Ziel unverhältnismäßig schwerwiegend in ihre Rechte eingegriffen habe.[20] In seinen Grundsätzen blieb das Konzept also unangetastet. Entsprechend wurde die grundlegende Definition der Treuepflicht, wie sie im Urteil von 1975 festgelegt wurde, Teil der ständigen Rechtsprechung – zuletzt zitiert in einem Urteil des Freiburger Verwaltungsgerichts, in dem von einem entlassenen Polizeibeamten auf Widerruf ein positives Verhältnis zu den Grundpfeilern der Verfassung gefordert wurde.[21]

Die Grundpfeiler von Staat und Verfassung und ihr Verhältnis zum Rechtsextremismus hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Wunsiedel-Beschluss deutlich gemacht: Politische System und Grundgesetz der Bundesrepublik seien als Gegenentwurf zum NS-Regime konzipiert. Diese vollkommene Abkehr vom Nationalsozialismus habe geradezu „identitätsprägende Bedeutung“.[22] Das mag angesichts der personellen Kontinuitäten in Verwaltung und Justiz nach 1945, rechtsextremer Gewalt, strukturellem Rassismus und Antisemitismus für manche nach Augenwischerei oder gar Heuchelei klingen. Man kann diese Interpretation aber auch als Versprechen verstehen, an dem sich alle staatlichen Einrichtungen messen lassen müssen, auch die Polizei. Dass dem nicht immer genüge getan wird, zeigt ein Blick in die Praxis.

Blockieren

Fragt man bei den verschiedenen Landesinnenministerien und Polizeihochschulen nach, wie in aus den Medien bekannten Fällen und auch ganz grundsätzlich bei rechtsextrem motiviertem Verhalten von Polizist*innen vorgegangen wird, antworten nur sehr wenige Bundesländer ausführlich. Acht Bundesländer haben auch fünf Monate nach einer Anfang Juni 2020 gestellten Anfrage gar nicht reagiert. Die anderen blockieren mit Ausreden: Es sei zu viel Aufwand die Akten zu sichten, der Datenschutz stünde im Wege, ermittlungstaktische Gründe sprächen gegen eine Antwort auf die Frage, ob ein*e bestimmte*r Polizist*in noch im Dienst ist.[23] In einem Bundesland wird die Anfrage sehr vage beantwortet. Nach erneuter Nachfrage, wie in einigen konkreten Fällen disziplinarrechtlich vorgegangen wurde (die Namen der Polizist*innen waren weder aus den Medien bekannt, noch wurden sie abgefragt) und langer Diskussion, wurde schließlich geantwortet, dass die Informationen niemanden etwas angingen und man nicht antworten wolle. Den Ansprüchen eines demokratischen Rechtsstaates, in dem der Staat gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig ist, wird diese Blockadehaltung nur schwerlich gerecht.

Aufschieben und ignorieren: Der Fall Marko G.

Das Disziplinarverfahren gegen Marko G., Polizist beim Spezialeinsatzkommando in Mecklenburg-Vorpommern und als rechtsextremer Prepper Mitglied der Gruppe „Nordkreuz“, ist eines der wenigen Verfahren über das verhältnismäßig viel bekannt ist. An seinem Beispiel zeigt sich eine gewisse Zögerlichkeit, die in anderen Fällen nur erahnt werden kann: Bei Hausdurchsuchungen wurden im Sommer 2019 bei Markus G. neben Waffen auch zehntausende Schuss entwendeter Munition aus verschiedenen Polizeieinheiten und Bundeswehreinrichtungen gefunden.[24] Gegen ihn wurde neben einem Disziplinarverfahren auch ein Strafverfahren eingeleitet. Im Dezember 2019 wurde er wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffengesetz zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt.[25] Sobald das Urteil Rechtskraft erhält, wird Marko G. qua Strafurteil auch aus dem Dienst entfernt. Dies kann allerdings noch dauern, denn die Staatsanwaltschaft hat wegen des geringen Strafmaßes Berufung eingelegt. Das parallel laufende disziplinarrechtliche Verfahren wurde für die Dauer des Strafverfahrens ausgesetzt. Im Sommer 2020 ist es noch nicht wiedereingesetzt. Das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern scheint darauf zu setzen, dass sich das Problem mit dem Urteil des Strafgerichts quasi von selbst löst.

Es ist zwar rechtlich möglich, ein Disziplinarverfahren während strafrechtlicher Ermittlungen auszusetzen. Auf den ersten Blick mag das auch ressourcensparend wirken. Aber ein Abwarten zieht die Angelegenheit unnötig in die Länge, wie wir im Fall von Marko G. sehen. Außerdem geht es in den beiden Verfahrensarten um unterschiedliche Gegenstände: Während das Strafrecht dem eigenen Anspruch nach als letztes Mittel nur das Verhalten bestraft, das von der Gesellschaft als schlecht­hin nicht mehr hinnehmbar befunden wird, ist Ziel eines Disziplinarverfahrens die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und das Ansehen des Amtes im Besondern und des Beamtentums im Allgemeinen zu wahren. Es geht um die Integrität des Staates.[26] Die Rechtsordnung betrachtet Disziplinarverfahren daher eben nicht erst dann als geboten, wenn ein Verhalten auch strafrechtlich relevant ist.[27]

Dass gegen Marko G. – der bereits in den 1990ern bei der Bundeswehr durch rechtsextreme Äußerungen auffiel (dort entwendete er 1993 auch die Uzi, die 2019 in seiner Wohnung gefunden wurde), gegen den 2009 mindestens zwei Kollegen wegen rechtsextremen Parolen und Äußer­ungen Beschwerde erhoben hatten, ohne dass seine Vorgesetzten etwas unternahmen, und bei dem 2017 Munition aus Behördenbeständen gefunden wurden – erst 2019 ein Disziplinarverfahren eröffnet wurde, nur um es dann auszusetzen, zeigt, dass Rechtsextremismus unter Beamt*innen mancherorts lange ignoriert wurde.

Reformbedarf?

Angesichts dieser Vorkommnisse liegt es nahe, eine Reform des Disziplinarrechts zu fordern, um Entlassungen von rechtsextremen Polizist­*innen zu erleichtern und zu beschleunigen.[28] Sicherlich sind unterschiedliche Gesetzesänderungen denkbar, die solche Maßnahmen vereinfachen würden: gesetzliche Klarstellungen, z.B. bezüglich der Fra­ge welches Verhalten einen Vertrauensverlust verursacht. Denkbar sind auch Verfahrensvereinfachungen, wie Fristverkürzungen oder ähnliches. Sie sind aber nicht notwendig, um entschiedener gegen rechtsextreme Polizist*innen vorzugehen. Wenn das bestehende Recht angewandt, durch­gesetzt und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf allen Ebenen des Staates ernstgenommen würde, wäre es durchaus möglich Rechtsextreme zügig aus dem Polizeidienst zu entfernen.

Dass dies möglich ist, zeigt das folgende Beispiel: Ein zur Sicherung deutscher Botschaften abgeordneter Bundespolizist war von der Bundespolizei angezeigt worden, nachdem er den Holocaust geleugnet und sich positiv auf den Nationalsozialismus bezogen hatte. Noch vor dem Ende des Strafverfahrens war er entlassen worden. Das Gericht bestätigte die Entfernung aus dem Dienst.[29]

Dass in ähnlichen Fällen nichts oder nur wenig passiert, liegt weniger am Mangel gesetzlicher Möglichkeiten, als vielmehr an Korps-Geist und Eigendynamik von Behördenstrukturen. Ebenso wie die generelle Tendenz von Behörden und Gerichten, die Gefahren von Rassismus, Antisemitismus oder Rechtsextremismus zu verharmlosen, dürften diese Faktoren die eigentlichen Hindernisse sein. Abhilfe schaffen könnten ex­terne Beschwerdestellen, wie es sie unter anderem in Dänemark seit 2012 gibt. Wären solche Einrichtungen zusätzlich zu ihren strafrechtlichen auch mit disziplinarrechtlichen Ermittlungsbefugnissen ausgestattet, ließe sich wohl zumindest Korpsgeist und Behördenverkrustung bei Disziplinarverfahren etwas entgegensetzen.

„Jetzt aber wirklich!“

Dass es so wie es derzeit läuft, nicht weitergehen kann, ist inzwischen auch den Innenministerien klar geworden. Im Juni 2020 legte das Bundesinnenministerium im Nachgang zum Anschlag von Halle eine Bestandsaufnahme zu disziplinarrechtlichen Konsequenzen bei extremistischen Bestrebungen vor.[30] Im September folgte die Veröffentlichung eines Lageberichts zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dieser listet erstmals dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen oder Verfahren auf, die zwischen 2017 und 2020 wegen des Verdachts auf rechtsextremistische Einstellungen oder Verhaltensweisen eingeleitet wurden.[31] Auch wenn Bundesinnenminister Seehofer bei der Vorstellung des Lageberichts betonte, dass es sich lediglich um Einzelfälle handele, bleibt die Hoffnung, dass die Behörden unter dem wachsenden öffentlichen Druck „jetzt aber wirklich“ die Möglichkeiten des Disziplinarrechts nutzen, um rechtsextreme Polizist*innen zu entlassen; zum Schutz von marginalisierten Gruppierungen, zum Schutz ihrer nicht-rechtsextremen Kolleg*innen und zum Schutz der gesamten Gesellschaft.

[1]   Ihre Namen: Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun und Sedat Gürbüz.
[2]     Für einen Überblick über die verschiedenen Vorfälle bis Dezember 2019: Rechtsextremismus bei der Polizei – Zu viele Einzelfälle, Deutschlandfunk v. 20.12.2019; Meisner, M.; Kleffner, H. (Hg.): Extreme Sicherheit – Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Freiburg im Breisgau 2019.
[3]   Mit rechtsextremen Polizist*innen sind solche Beamt*innen gemeint, deren rechtsextreme Gesinnung auf Grund von Mitgliedschaften in als solche bekannten Vereinigungen oder entsprechend motivierten Äußerungen und Handlungen offenliegt.
[4]   Der Fokus liegt hierbei nicht darauf, eine „richtigere“ dogmatische Lösung zu finden oder die herrschende Rechtsdogmatik zu kritisieren, sondern soweit das möglich ist die derzeitige Rechtslage, wie sie sich in Urteilen und Gesetzen darstellt, nachzuzeichnen.
[5]    Bundesverfassungsgericht: Beschluss v. 19.2.2003, Az.: 2 BvR 1413/01
[6]     Bundesverwaltungsgericht: Urteil v. 20.10.2005, Az.: 2 C 12.04, Rn. 24
[7]   vgl. § 13 Abs. 2 BDG
[8]     Bundesverwaltungsgericht: Urteil v. 20.10.2005, Az.: 2 C 12.04, Rn. 26
[9]     vgl. § 41 Abs. 1 Nr.1 Bundesbeamtengesetz (BBG)
[10] Leppek, S.: Beamtenrecht, Heidelberg 2019, Rn. 156, 195c
[11]  vgl. § 60 Abs. 2 BBG
[12] Leppek a.a.O. (Fn. 10), Rn.170
[13] Haneke, R.: Radikal im Staatsdienst – Beamte zwischen besonderer Loyalitätspflicht und freier Meinungsäußerung, in: Meisner; Kleffner a.a.O. (Fn. 2), S. 30-38 (32)
[14] vgl. Art. 33 Abs. 4 GG, § 60 BBG, § 33 BeamtStG
[15]   vgl. § 60 Abs. 2 BBG, § 33 Abs. 2 BeamtStG; Schmidt, T.I.: Beamtenrecht, Tübingen 2017, Rn. 283 ff.
[16]   Bundesverfassungsgericht: Beschluss v. 22.5.1975, Az.: 2 BvL 13/73
[17] so etwa bei Schlink, B.: Zwischen Distanz und Identifikation, in: Der Staat 1976, H. 3, S. 335-366
[18] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil v. 26.9.1995, Nr. 17851/91
[19] ebd., Rn. 59, 60
[20] ebd., Rn. 59 ff.
[21] Verwaltungsgericht Freiburg, Beschluss v. 19.10.2020, Az.: 3 K 2398/20, Rn. 28
[22]   Bundesverfassungsgericht: Beschluss v. 04.11.2009, Az.: 1 BvR 2150/08, Rn. 65
[23]   Die Anfragen zu den Disziplinarverfahren bei den Innenministerien erfolgten innerhalb des Forschungsprojekts „ZuRecht – Die Polizei in der offenen Gesellschaft“, einer Kollaboration der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Deutschen Hochschule der Polizei, gefördert durch die Stiftung Mercator.
[24] vgl. Ermittlungen zum Hannibal-Komplex: Anklage gegen „Nordkreuz“-Gründer, taz v. 19.9.2019
[25] mehr zum Urteil und seinen Absurditäten: Bewährungsstrafe für „Nordkreuz“-Chef, Panorama v. 20.12.2019; Rechter Nordkreuz-Prepper Marko G. – „Eine einmalige Verfehlung“, taz v. 24.4.2020
[26] Schmidt a.a.O. (Fn. 15), Rn. 438
[27] zuletzt: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 4.3.2020, Az.: OVG 82 D 1.19
[28] Rechtsextremisten bei der Polizei – Keine zweite Chance, Süddeutsche Zeitung v. 16.9.2020; „Wir brauchen endlich eine Fehlerkultur bei der Polizei“, Die Welt v. 22.9.2020
[29] Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 4.3.2020, Az.: OVG 82 D 1.19
[30] Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat: Disziplinarrechtliche Konsequenzen bei extremistischen Bestrebungen, Berlin 2020
[31] Bundesamt für Verfassungsschutz: Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden. Lagebericht, Köln 2020

Chronologie Dezember 2020

zusammengestellt von Otto Diederichs

1. Dezember: Rechtsextremismus: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verbietet die rechtsextremistische Gruppe „Sturmbrigade 44“ (auch: „Wolfsbrigade 44“). Die Gruppe gilt als gewaltbereit. Am 2. Dezember beschließt die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Vorgesehen sind darin eine intensive Prävention, eine Stärkung der Sicherheitsbehörden, schärfere Strafgesetze, bessere Hilfen für Betroffene und eine Forschungsstudie zu Alltagsrassismus. Am 4. Dezember verurteilt das Landgericht (LG) Nürnberg-Fürth (Bayern) einen Mann wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat zu einer zweijährigen Haftstrafe. Vor dem LG Hildesheim (Niedersachsen) beginnt der Prozess gegen einen Rechtsextremisten wegen Vorbereitung einer terroristischen Gewalttat. Der im Mai festgenommene Mann hatte im Internet die Tötung von Muslimen angekündigt. Bei der Wohnungsdurchsuchung waren rechtsextremistische Datenträger und Waffen gefunden worden. In einer Lagerhalle in Österreich findet die Polizei am 11. Dezember über 70 Schusswaffen und eine große Menge Munition, die für deutsche Rechtsextremisten bestimmt ist. Auf die Spur gekommen waren deutsche und österreichische Ermittler*innen durch eine Drogenlieferung aus Deutschland. Zeitgleich werden in Bayern und NRW je eine Person und in Österreich fünf Personen festgenommen. Chronologie Dezember 2020 weiterlesen

Von Staatsschutz bis Schattenboxen: Polizei gegen rechts – eine Einleitung

Das Thema „Polizei und Rechtsextremismus“ hat in den Medien Konjunktur. Dabei werden unterschiedliche Aspekte beliebig zusammengerührt: die (fehlende) kriminalistische Aufmerksamkeit für rechte und rassistische Tatmotive, das polizeiliche Vorgehen ge­gen rechtsextremistische Täter*innen sowie die Existenz rechtsextremer Netzwerke und rassistischer Einstellungen innerhalb der Polizei selbst. Erst eine tiefergehende Betrachtung jeder dieser Aspekte ermöglicht Erkenntnisse jenseits der wiederkehrenden Empörung über einzelne Skandale.

Nachdem die Anschläge von Kassel, Halle und Hanau offenbar als Weckruf für die bislang in Sachen Rechtsextremismus und -terrorismus eher träge Bundesregierung dienten, sollen Polizei und Strafjustiz es nun richten. Nur wenige Wochen nach dem Angriff auf die Synagoge und die Gäste eines Dönerladens in Halle präsentierte die Bundesregierung Ende Oktober 2019 ein „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“.[1] Dies umfasste insbesondere Pläne, den Hass im Netz besser zu verfolgen. Hierfür will die Große Koalition nun das Strafrecht verschärfen und etwa Drohungen mit körperlicher Gewalt oder die Billigung noch nicht erfolgter Straftaten kriminalisieren. Von Staatsschutz bis Schattenboxen: Polizei gegen rechts – eine Einleitung weiterlesen

Blaming the victims: Der antisemitische Doppelmord in Erlangen 1980 und die Ermittler

von Ronen Steinke

Heute wird oft behauptet, die Ermittler hätten aus ihrem Versagen beim NSU gelernt. Aus ihrer Bereitschaft also, eher steile Thesen über getötete Migrant*innen aufzustellen als Spuren in die Neonaziszene nachzugehen. Seither würden sie stärker auf rechtsextreme Hintergründe achten. Das hätte man allerdings schon aus einem anderen Fall lernen können – vor jetzt 40 Jahren.

Der 19. Dezember 1980 ist ein Freitag, es ist schon dunkel, etwa halb sieben am Abend. Für Juden heißt das, der Schabbat hat begonnen, es ist ein Moment für Kerzenschein und ein Glas Wein. In einem Bungalow in der Ebrardstraße 20 nahe der Erlanger Universität sind die Jalousien heruntergelassen, so werden später die Beamt*innen der Spurensicherung notieren. Shlomo Lewin, bis vor kurzem Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, ist zu Hause mit seiner Lebensgefährtin, Frida Poeschke. Es klingelt, er öffnet. Blaming the victims: Der antisemitische Doppelmord in Erlangen 1980 und die Ermittler weiterlesen

Drogen im öffentlichen Raum: Verdrängung, Schikane, kontrolliertes Gewährenlassen

von Norbert Pütter und Jenny Künkel

Dem öffentlichen Raum wird in demokratischen Gesellschaften eine besondere Qualität zugeschrieben: Denn er steht formal allen offen, unabhängig von Stand und Vermögen, und er soll der Ort sein, an dem sich das soziale Leben auch physisch manifestiert. Da gerade Marginalisierte ihr Leben in den öffentlichen Raum verlagern (müssen), entscheidet die Regulierung dieser Sphäre (mit) über ihre gesellschaftliche Teilhabe. Am Umgang mit den offenen Drogenszenen in Deutschland zeigt sich, dass für manche der öffentliche Raum in einen Repressionsraum verwandelt wird.

Dass verschiedene soziale Gruppen in unterschiedlicher Weise auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, ist eine Banalität. Die einen nutzen Straßen und Plätze als Wege zwischen den Orten, an denen sich ihr Leben vorrangig abspielt (dem Zuhause, der Arbeit, den kulturellen und sozialen Events). Für andere dient der öffentlich Raum zum Leben, weil sie kein Zuhause haben, in prekären Verhältnissen wohnen oder weil sie auf die Ressourcen angewiesen sind, die die (städtische) Öffentlichkeit bietet (z.B. das Potential, zum informellen Austausch von Waren oder Dienstleistungen zusammenzukommen).[1] Drogen im öffentlichen Raum: Verdrängung, Schikane, kontrolliertes Gewährenlassen weiterlesen

Chronologie November 2020

zusammengestellt von Otto Diederichs

1. November: Rechtsradikalismus bei der Bundeswehr: Durch Presseberichte wird bekannt, dass die Bundeswehr aktuell Hinweisen zu acht Fällen von Rechtsextremismus nachgeht, davon drei beim „Kommando Spezialkräfte“ (KSK). Durch weitere Presseberichte wird am 27. November bekannt, dass 26 Soldaten einer Panzerbrigade in einer Chatgruppe untereinander rechtes Propagandamaterial über Rassismus und Antisemitismus, Pornobilder und Behindertenwitze ausgetauscht haben. Zu ihnen gehören 16 Unteroffiziere und 10 Mannschaftsdienstgrade. Disziplinarische Ermittlungen wurden eingeleitet; drei Soldaten wurde die Ausübung des Dienstes verboten.

Ermittlungen gegen Dschihadist*innen: Durch Presseberichte wird bekannt, dass der Generalbundesanwalt (GBA) in 2020 bereits rund 320 Verfahren gegen islamistische Terrorist*innen eingeleitet hat. Insgesamt geht der GBA von rund 620 Gefährder*innen aus. In drei Bundesländern durchsucht die Polizei am 6. November Wohnungen und Geschäftsräume von vier Personen, die Verbindungen zum islamistischen Attentäter in Wien (Österreich) gehabt haben sollen. Die Personen selbst gelten nicht als tatverdächtig. Chronologie November 2020 weiterlesen

Der vermessene Alltag der Leitstellen: Wie die Polizei Notrufeinsätze koordiniert

von Philipp Knopp

Leitstellen sind Knotenpunkte in der Koordination von Polizeieinsätzen. Sie lösen auch Polizeieinsätze aus, z. B. auf der Basis von Notrufen. Digitale Technologien strukturieren dabei auch weite Teile des Alltags von Polizist*innen – Beobachtungen aus einer Leitstelle in Österreich.

Die kritischen Debatten um die Technologien der Polizei fokussieren häufig neue und aufsehenerregende Systeme, internationale Datenbanken oder KI-gestützte Kriminalistik. Eine Besprechung des Funks und der Informationssysteme der Einsatzleitzentralen als wichtige Kommunikationsinfrastrukturen der Polizei erdet diese Debatten, weil aufgezeigt wird, dass avancierte Technologien den Alltag der Polizei seit vielen Jahrzehnten prägen. Gleichermaßen rückt der Blick auf den Polizeifunk Aspekte der Konnektivität in den Vordergrund. Dies gilt für komplexe Großeinsätze bei großen Versammlungen oder Fußballspielen wie auch für den Polizeialltag. Der vermessene Alltag der Leitstellen: Wie die Polizei Notrufeinsätze koordiniert weiterlesen

Testfeld Fußball: Repressiver Alltag am Spieltag

von Angela Furmaniak

Fußballfans, insbesondere Ultras, waren und sind in allen Bundesländern an den Protesten gegen die neuen Polizeigesetze beteiligt.[1] Kein Wunder: Ultras sind schon heute stark von polizeilichen Maß­nah­men betroffen. Neue Techniken und polizeiliche Befugnisse werden gerne an ihnen ausprobiert.

Die Bewegung der Ultras ist in Deutschland seit den 90er Jahren heimisch. Es sind leidenschaftliche Fans, die ihre Mannschaft an jedem Spiel­tag begleiten und mit Gesängen, Fahnen und sonstigem Material unterstützen. Ultras wehren sich gegen die Kom­mer­zialisierung des Fußballgeschäfts und melden sich in vielen fanpolitischen Bereichen zu Wort: gegen fanunfreundliche Anstoßzeiten und teure Ticketpreise, für die Beibehaltung der 50+1-Regel (also dafür, dass Kapitalanleger*innen nicht die Stimmenmehrheit bei Kapitalgesellschaften übernehmen dürfen), gegen die zunehmende Überwachung der Stadien und die Reglementierung der Fankultur. „Pyros“ im Stadion sind für sie unverzichtbares Stilmittel, und immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Ultragruppen gegnerischer Vereine, die damit ihre Überlegenheit unter Beweis stellen wollen.[2]

Aus polizeilicher Sicht stellen Ultras vor allem ein Sicherheitsrisiko dar, dem es mit polizeilichen Mitteln zu begegnen gilt.[3] Funktionäre der Polizeigewerkschaften fordern immer wieder ein härteres Vorgehen gegen „Fußballchaoten“ [4]. Und bei der Innenministerkonferenz steht das Thema „Sicherheit im Fußball“ regelmäßig auf der Tagesordnung.[5] Testfeld Fußball: Repressiver Alltag am Spieltag weiterlesen