Archiv der Kategorie: CILIP 079

(3/2004) Der neue Strafprozess: Herrschaft der Hilfsbeamten

Im Schutz der Anonymität – LKA Niedersachsen fördert Denunziation

von Rolf Gössner

Seit Oktober 2003 läuft beim niedersächsischen Landeskriminalamt (LKA) ein bundesweit einmaliges Projekt, das der Korruptionsbekämpfung dienen soll. Per Internet können Bürger anonym Tipps geben, wer angeblich wen wo schmiert oder welche öffentlichen Leistungen erschleicht. Sein Projekt hat dem LKA eine „tadelnde Erwähnung“ bei den diesjährigen Big-Brother-Awards eingebracht.[1]

In zehn Monaten verzeichnete das LKA bereits 15.000 Zugriffe auf dieses „Business Keeper Monitoring System“.[2] 456 Verdachtsmeldungen seien eingegangen, davon 269 mit angeblich strafrechtlicher Relevanz. Rechtskräftige Urteile gibt es noch nicht. Die Denunziationsquote soll laut LKA bei nur 5 Prozent liegen; das wären etwa 23 Fälle – 23 Fälle zu viel. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Im Schutz der Anonymität – LKA Niedersachsen fördert Denunziation weiterlesen

Die Kette der Vollstrecker – Was zählt das Freiheitsrecht von Nichtdeutschen?

von Silke Studzinsky

Ausländer ohne Aufenthalt, die nach einer strafrechtlichen Verurteilung aus der U-Haft entlassen werden, landen nicht in Freiheit, sondern werden ohne Haftbeschluss noch im Gerichtssaal festgenommen und in den Abschiebegewahrsam verfrachtet.

Die Videoaufnahme wird später zeigen, wie der Algerier A. und sein Bekannter in der Damenabteilung eines Kaufhauses herumspazieren, mehr nicht. Für die Polizeibeamten einer Spezialeinheit, die auf Taschendiebstähle spezialisiert ist, ist dies Verdacht genug, um die beiden Männer festzunehmen. Am 16. November 2003 erlässt der Richter den Haftbefehl. Die Haftprüfung hat keinen Erfolg, A. hat keinen festen Wohnsitz in Deutschland. Er ist erst drei Tage vorher eingereist und kann nur eine gefälschte französische Identitätskarte vorweisen. Um die Abschiebung aus der Haft zu sichern, hat die Ausländerbehörde nachgedoppelt und zusätzlich einen Abschiebehaftbeschluss bis zum 28. De­zem­ber erwirkt. Die Kette der Vollstrecker – Was zählt das Freiheitsrecht von Nichtdeutschen? weiterlesen

Reform des Strafverfahrens – Ein Schritt in die richtige Richtung?

von Jasper von Schlieffen

Im Februar 2004 haben die Regierungsfraktionen und das Bundesjustizministerium einen Diskussionsentwurf zur Reform des Strafverfahrens (DE) vorgelegt.[1] Der Entwurf sieht u. a. vor, die Verteidigung stärker an Vernehmungen im Er­mitt­lungsverfahren zu beteiligen. Ein zaghafter Schritt in die richtige Richtung.

Das Wort „Strafverfahrensänderungsgesetz“ stand in den letzten Jahrzehnten für den kontinuierlichen Abbau der Rechte der Verteidigung. Dieser Abbau erfolgte großenteils implizit durch eine Ausdehnung polizeilicher Ermittlungsbefugnisse, teilweise aber auch ganz offen. Der im Februar vorgelegte Diskussionsentwurf der rot-grünen Regierungsfraktionen und des Bundesjustizministeriums verspricht nun eine Richtungsänderung. Reform des Strafverfahrens – Ein Schritt in die richtige Richtung? weiterlesen

TK-Überwachung: noch keine Reform – Geltungsdauer der §§ 100g, 100h StPO verlängert

von Björn Gercke

Seit Jahren wird eine Gesamtnovellierung der strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) diskutiert. Wenn auch mit unterschiedlichen Zielen, stimmen Strafverfolgungsbehörden, Verteidigerinnen und Verteidiger, Gerichte, Lehre und Gesetzgeber überein, dass die TKÜ in „ein harmonisches Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmethoden einzugliedern“ sei.[1]

Die Diskussion hat in jüngster Zeit eine neue Qualität erreicht, nachdem eine Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts (MPI) einerseits und eine Studie unter Leitung der Bielefelder Professoren Backes und Gusy[2] andererseits erstmals aussagekräftiges empirisches Material geliefert hatten. In der Begründung ihres Gesetzentwurfs zur Verlängerung der Geltungsdauer der §§ 100g und 100h der Strafprozessordnung (StPO) bezieht sich die Bundesregierung zumindest auf die MPI-Studie ausdrücklich. TK-Überwachung: noch keine Reform – Geltungsdauer der §§ 100g, 100h StPO verlängert weiterlesen

Die Strafrechtssetzung in der EU – Im eisernen Griff der Strafverfolgungsbehörden

von Michael Sturm

Die straf- und strafverfahrensrechtliche Rechtssetzung auf EU-Ebene ist einseitig von den Vorstellungen von Strafverfolgungsbehörden geprägt. Ideologischer Hintergrund ist die Behauptung eines „Grundrechts auf Sicherheit“, das benutzt wird, um angeblich effiziente Verfahrensabläufe innerhalb eines vereinigten Europas in Strafsachen herbeizuführen. Die Beschuldigtenrechte werden dabei auf dem Altar einer behaupteten „Effizienz der Strafverfolgung“ geopfert.

Der im Juli 2002 verabschiedete Europäische Haftbefehl war zwar ein wichtiger Markstein, aber nicht der Anfang einer Rechtssetzung in Sachen Strafrecht auf europäischer Ebene.[1] Zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge über die Rechtshilfe in Strafsachen und über die Auslieferung war es bereits in den 50er Jahren gekommen – seinerzeit allerdings im Rahmen des Europarats. Die Strafrechtssetzung in der EU – Im eisernen Griff der Strafverfolgungsbehörden weiterlesen

Nur die halbe Wahrheit – In den Hamburger al-Qaida-Verfahren wurde die gerichtliche Aufklärung staatlicherseits behindert

von Stefan Waterkamp

Der Kampf gegen den Terrorismus wird seit dem 11. Sep­tember 2001 militärisch, polizeilich, politisch und juristisch geführt. Dabei bleiben Bürger- und Menschenrechte regelmäßig auf der Strecke. Die bisherigen Strafverfahren gegen mutmaßliche Terrorhelfer in Deutschland sind keine Ausnahme.

Wahrheit und Gerechtigkeit sind die Leitprinzipien des Strafverfahrens. Straf- und Strafverfahrensrecht tragen diesen Grundsätzen Rechnung, indem sie die Ermittlung des Sachverhalts der richterlichen Aufklärungspflicht, dem „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“, unterstellen (§ 244 Abs. 2 StPO).[1] Den Gerichten wird die „bestmögliche Sachaufklärung“ allerdings nicht immer leicht gemacht. Nur die halbe Wahrheit – In den Hamburger al-Qaida-Verfahren wurde die gerichtliche Aufklärung staatlicherseits behindert weiterlesen

Außer Spesen nichts gewesen – Polizeilich bestellte Drogenlieferung

von Anja Lederer

Zur effizienten Bekämpfung der vermeintlich zunehmenden und sich perfektionierenden „organisierten Kriminalität“ brauche es ausgedehnte polizeiliche Befugnissen, den Einsatz technischer Mittel und Verdeckte Ermittler. So schallt es seit Jahren aus den Reihen der RepressionstrategInnen. Dass die Erfolge im Zweifel bescheiden sind, zeigt das folgende Beispiel aus der Strafverfolgungspraxis.

Im Frühjahr 2004 wird das Landgericht Berlin drei Männer wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Kokain in nicht geringer Menge zu Freiheitsstrafen zwischen siebeneinhalb und neun Jahren verurteilen. Die Geschichte ihres Falles beginnt damit, dass einer der drei einen Arbeitskollegen anspricht, der – wie er selbst – im schlecht bezahlten privaten Sicherheitsgewerbe arbeitet. Er fragt, ob dieser nicht junge deutsche Männer kenne, die gegen gutes Geld für ein paar Tage nach Südamerika fliegen und auf dem Rückweg „Stoff“ in die Niederlande bringen könnten, wo die „Ware“ dann von anderen Personen in Empfang genommen würde. Der Kollege geht prompt zur Polizei, wird dort mit seiner Geschichte jedoch zunächst weggeschickt. An der Wache hält man ihn dann doch noch zurück und fragt, ob er (im Folgenden: Zeuge X) bereit sei, „ggf. aktiv mit der hiesigen Dienststelle zusammenzuarbeiten“, insbesondere seinem Kollegen einen von der Polizei gestellten „Scheintransporteur“ vorzustellen. Er bejaht dies.[1] Außer Spesen nichts gewesen – Polizeilich bestellte Drogenlieferung weiterlesen

Mehr als nur ein Schlag ins Wasser – Die EU intensiviert die Kontrollen ihrer Seegrenzen

von Mark Holzberger

Die EU setzt inzwischen eine Vielzahl von Instrumenten ein, um unerlaubte Zuwanderer weit vor den Grenzen Europas – spätestens aber auf dem Mittelmeer – davon abzuhalten, nach Europa zu gelangen. Die entscheidende Frage aber, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden soll, die bei solchen außereuropäischen Polizeieinsätzen aufgegriffen werden, kann die EU bislang nicht beantworten.

Seit der Sitzung mit seinen EU-KollegInnen Mitte Juli 2004 wird Bundesinnenminister Otto Schily nicht müde, seiner Sorge Ausdruck zu verleihen „über die große Zahl derer, die sich in oft seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machen und dabei Leib und Leben riskieren“. Um das tausendfache Sterben auf dem Mittelmeer zu stoppen, schlug der Minister zwar auch vor, die Kapazitäten zur Seenotrettung zu verbessern. Sein Hauptinteresse liegt aber auf einem anderen Gebiet: Die Schleusung heimlicher MigrantInnen auf dem Seewege müsse „verstärkt bekämpft werden“. Hierzu sei „eine verstärkte Kooperation mit allen Anrainerstaaten des Mittelmeeres, insbesondere den nordafrikanischen Staaten“ nötig. Für die auf See aufgegriffenen Personen empfahl Schily Aufnahmeeinrichtungen „außerhalb der Grenzen Europas“ – z. B. in den nordafrikanischen Mittelmeerländern.[1] Mehr als nur ein Schlag ins Wasser – Die EU intensiviert die Kontrollen ihrer Seegrenzen weiterlesen